„Liebe Freunde, liebe Genossen,
gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung: Was ich sagen werde, ist meine Meinung und nur meine Meinung. Ich spreche hier für keine Partei und keine Organisation. Nun zur Sache:
Wir wollen Frieden, wir haben Angst vor dem III. Weltkrieg, wir wollen nicht in Atombunker, wir wollen leben. Unsere Angst ist nur zu begründet. Wir wissen, was der II. Weltkrieg angerichtet hat. In Oranienburg werden noch jetzt Fliegerbomben gefunden und entschärft. Ein Brief meiner Mutter, einer einfachen Frau, aus Berlin-Neukölln an ihre Mutter nach Dresden, geschrieben am 29. Juni 1945, schildert die Atmosphäre dieser Zeit besser als ich es tun kann. Es gab noch keine Post. Auf einem Zettel an einem Baum hatte sich ein Mann zur Beförderung von Post nach Dresden angeboten. Das klappte. In dem Brief hieß es u.a.:
„ Meine liebe, liebe Mutter!
Wir leben! Es fällt mir sehr schwer diesen Brief zu schreiben, aus seelischen u. körperlichen Gründen. … beim schreiben dieser Zeilen kommt mir das namenlose Elend wieder zum Bewußtsein was wir durchgemacht haben, 6 Wochen, ehe der Russe hier war, Nacht für Nacht bombardiert – Berlin hatte 700 Angriffe. Dann kam der Kanonendonner der Front langsam aber sicher näher. Wir haben gezittert wenn er aufhörte, wir glaubten der Russe würde wieder zurück gedrängt. Wir hatten wohl Angst vor dem Straßenkampf u. dessen Folgen, vor Brand am meisten, aber wir hofften u. wünschten die Befreiung. Dann war sie da Am 25. April 2 ¼ Uhr kamen 2 Russen durch unseren Garten wir raus aus der Wohnung ihnen entgegen. Ich habe geweint und ihnen die Hand gedrückt, andere haben sich versteckt. Ich hatte keine Angst. Die zwei sahen sehr gut aus u. sagten: “Ruski tut keinen Zivilpersonen etwas”. 10 Minuten vorher waren noch 4 S.S. Soldaten bei uns im Haus, die setzten sich ohne zu schießen G.s.D. ab. In der Luft war eine tolle Schießerei, die Granaten flogen über den Häusern, die Stalinorgel orgelte ihre Granaten aus allen Rohren, es war ein Höllenlärm. 15 Mieter aus unserem Haus wir natürlich mit, hatten uns vollkommen Tag u. Nacht im gut abgestützten Keller eingerichtet.“ Soweit der Brief.
Ich habe auch erlebt, wie der II. Weltkrieg von Hitler vorbereitet wurde. In der Schule, im Erdkundeunterricht, sahen wir auf Schautafeln, wie Deutschland von feindlichen Kampfflugzeugen von allen Seiten bedroht wurde, Polen provozierte angeblich an unserer Grenze, Luftschutzkeller wurden eingerichtet usw. Hitler log, er betonte seinen Friedenswillen, bis es am 1. September 1939 hieß: Es wird zurückgeschossen. Immer war es der andere der anfing.
Heute klingt es in meinen Ohren ähnlich: Die Russen annektieren die Krim, die Russen führen Krieg in der Ost-Ukraine, die Russen bombardieren Krankenhäuser in Syrien, die Russen schießen ein Passagierflugzeug ab, die Russen haben Schuld, dass das Morden in Syrien nicht endet. Klingt das nicht wie Kriegsvorbereitung? Die NATO ist bis an die Grenzen Russlands vorgerückt, sie hat den Sozialismus besiegt, will sie jetzt Russland besiegen? Wer ist der Aggressor? Was würden die USA sagen, wenn die Russen an ihren Grenzen, etwa in Mexiko, ihre Truppen stationieren und Manöver veranstalteten?
Viele dachten, als das sozialistische Lager in Europa verschwunden und der Kalte Krieg beendet war, das friedlichere Zeiten anbrechen würden. Das war ein Irrtum. Kriege brachen im Nahen Osten, in Asien, in Afrika und selbst in Europa aus. Ein neuer Kalter Krieg entstand. Ich sehe mich daher bestätigt in meiner Auffassung: Kapitalismus, Imperialismus bedeuten Krieg.
Diese unsere Auffassung ist alt. Wir sind alt, die Welt hat sich verändert seit Marx und Engels aber auch seit Lenin lebte. Der Kapitalismus ist sich im Kern gleich geblieben, aber drei industrielle Revolutionen, die Globalisierung veränderten die Welt, veränderten die Akteure im Klassenkampf, veränderten Kapitalisten wie Arbeiter.
Sozialisten, Kommunisten haben eine furchtbare, eine historische Niederlage erlitten. Wir haben uns davon noch nicht erholt. Wir kennen noch nicht wirklich die Ursachen unserer Niederlage. Wir müssen uns bemühen, sie zu erkennen. Ich bin nicht berufen, dazu einen Beitrag zu leisten, aber ich glaube, ich habe das Recht über diese Niederlage, die auch meine Niederlage ist nachzudenken. Wenn wir die Ursachen erkannt haben, wird es auch wieder vorwärts gehen.
Wir sind davon ausgegangen, dass die Arbeiterklasse die Trägerin des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Meine Partei war eine Partei der Arbeiterklasse. Sehen wir uns heute an, wer nach dem Zusammenbruch an unserer Seite geblieben ist. Wie viel Prozent der Mitgliedschaft der Linken, wie viele der DKP-Mitglieder sind Arbeiter? Ich weiß es nicht, meine Partei hat mich nicht informiert, sie fand das wohl unwichtig. Ich fürchte, der Prozentsatz ist nicht hoch. Wir haben Bahro, Harich, Janka, um nur einige zu nennen, als Feinde es Sozialismus zu hohen Strafen verurteilt, nach der Konterrevolution, als viele uns verließen, standen sie jedoch an unserer Seite.
Wir waren gegen Dogmatismus, aber waren wir nicht doch Dogmatiker?
Wir waren für innerparteiliche Demokratie, doch in Wirklichkeit vertrauten wir darauf, dass die Partei, d.h. der Generalsekretär, das Politbüro immer Recht haben.
Wir müssen uns intensiver damit beschäftigen, was wir richtig und was wir falsch gemacht haben. Die marxistische Wissenschaft darf nicht auf dem Stand des beginnenden 20. Jahrhunderts stehen bleiben.