Es gab Zeiten, zu denen ich Brechts „Lob des Kommunismus“ mit Inbrunst deklamiert habe – weil die großen Wahrheiten so unprätentiös daherkamen. Auch Ernst Busch hat das kleine Gedicht sympathisch unpathetisch vorgetragen, wie man sich noch heute überzeugen kann. Die berühmte Schlusszeile schließlich erwies sich als hervorragende Allzweckwaffe im ideologischen Streit: Es gab kein Problem, das geleugnet wurde, und es gab kein Problem, das aufgedeckt werden musste.
Es war wohl nicht darauf angelegt, aber so lernte man Debattier-Taschenspielertricks – und hat es lange Zeit nicht einmal gemerkt. Geschrieben ist das Gedicht vor 1932, entsprechend zurückhaltend mag die Kritik am Dichter sein. Zu der Zeit hatte sich Vieles noch nicht ereignet, was längst den Status einer verdrängten Vergangenheit und einer verdrängten Vorvergangenheit angenommen hatte; damals in meinen jungen Jahren, den 60-ern des vorigen Jahrhunderts.
„Frei-Denken“ ist ein großes Wort, das Ansprüche einschließt.
Einfach loslegen!? Hemmungen beiseite werfen! Der Phantasie, der freien, der Spekulation, der kühnen, die Zügel schießen lassen? Ein „kreatives Start up des Denkens“ sozusagen? Hauptsache überraschend, Hauptsache bunt, Hauptsache schnell? Ich sage dazu: „drauflos Schwadronieren“, doch ein Gebildeter klärt mich auf, dass so etwas wie objektive Wahrheit von gestern sei. Modern sei Konstruktion und Dekonstruktion. Und so senden sie über adressreiche Mailinglisten täglich Botschaften – die ein Unhöflicher schon mal als „heillose Buchstabenaneinanderreihungen“ bezeichnete.
Nein, voraussetzungslos ist freies Denken gewiss nicht.
So sagen wir und stehen vor der nächsten Falle. Was 1920 gedacht wurde, gehört zu den Voraussetzungen. Was 1930 gedacht wurde ebenfalls. 1940 ebenfalls, 1950 ebenfalls, 1960 ebenfalls. Marx, Lenin, Stalin, Carl Schmitt, Hannah Arendt, Axel Springer, mein Onkel Arthur – was wären keine Voraussetzungen?
Freies Denken braucht die Anstrengung des Begriffs und die in wenigstens zwei Richtungen:
Es stützt sich zum Ersten auf die bewährte Theorie. Unsere ist eine des realen Humanismus, dialektisch und materialistisch. Die über viele Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte, entwickelte Theorie in ihrer ganzen Ausdehnung und Tiefe und Praxiswirkung wird bewahrt und aufgehoben. Nichts wird ohne Prüfung relativiert oder gar verworfen.
Zugleich aber zum Zweiten wird nichts Überkommenes von der Prüfung verschont. Das „lebendige Leben“, wie Lenin gern sagte, ist und bleibt der größte Lehrer unseres Denkens. Es gibt uns die Anstöße, auch mit unserer Theorie kritisch und wenn nötig, revolutionär umzugehen. Denn die Beschwörung toter Buchstaben führt genauso in die Irre, wie der Kniefall vor dem neuesten Schrei des Marktes.
Ja, gerade heute verlangen diese beiden Anforderungen Enormes. Doch einfacher ist freies Denken nicht zu haben.
Der viele Jahrzehnte währende Weg des Realsozialismus – gemessen an der Geschichte ein Wimpernschlag, gemessen an der Biografie manches Menschen das Ein und Alles – hatte Erfolge aufzuweisen und hat gründliche Zerstörungen angerichtet.
Wohlan freies Denken, begib Dich auf den argen Weg! Du musst durch die Hölle der Erkenntnis, wie es der große Florentiner, den Marx bewunderte, Emigranten beide, beschrieben hat.
Und vergiss niemals: „Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst“ (Marx/Engels, Werke, Band 1, S. 385). Oder muss auch dieser Satz geprüft werden? Muss er heute anders verstanden werden? Gibt es gar dieses „lebendige Leben“, von dem Lenin sprach, nicht mehr?
Den 100. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution verstehen wir Berliner Freidenker als geistige Herausforderung.
Das tiefere Begreifen der Geschichte gibt uns Wissen, Optimismus und neue Kraft in den Kämpfen unserer Zeit.
Im Zentrum der Oktoberrevolution und der ersten Jahre der Sowjetmacht stand Lenin. Wir wollen Lenin wieder und tiefer und auch neu zu entdecken. Den Anfang haben wir mit einer Freidenkergesprächsrunde gemacht, von der es ein Video gibt –hier. Danach veröffentlichten wir einen Beitrag von Dr. Hermann Wollner – hier.
Heute setzen wir unsere Reihe „Lenin kennen lernen“ fort mit dem ersten geringfügig gekürzten (und umformatierten) Teil eines Vortragstextes des Historikers Prof. Dr. Heinz Karl aus Anlass des 90. Todestages von W. I. Lenin.
… Lenins Erben, zu denen ja auch wir uns zählen, kranken an dem Unglück, dass sie wiederholt und in entscheidenden Situationen es nicht vermochten, im Denken und Handeln Lenins Maßstäben gerecht zu werden.
Dabei wurde Lenins Genialität – in Theorie und Praxis -, die ihn als – bis heute – Einzigen an die Seite seiner großen Vorbilder Karl Marx und Friedrich Engels stellt, schon von seinen Zeitgenossen und Mitstreitern klar erkannt und gewürdigt. Clara Zetkin – eine der dazu Berufensten – hob wenige Tage nach seinem Ableben in der „Prawda“ das ihn besonders Auszeichnende hervor: „Lenin war keineswegs in dem Sinne der genialste Schüler von Marx, daß er marxistische Formeln nachbetete, sondern im besten Sinne des Wortes, im Sinne der progressiven und schöpferischen Entwicklung der Marxschen Ideen. Lenin war der größte Marxist der Tat.“(1) Und an anderer Stelle ergänzend: „Lenin war nie der Gefangene seiner Formeln … und er beugte nie die Kräfte des lebendigen, schöpferischen Lebens unter die Macht von toten Buchstaben.“ (2)
Auf der Gedenksitzung des II. Sowjetkongresses der UdSSR am 26. Januar 1924 betonte sie eine weitere entscheidende Seite seiner Persönlichkeit: „Ein Riese, ragte er über die Knirpse jener bürgerlichen wie reformistischen ‚Realpolitik‘ empor, für die der kleine Tageserfolg der angebetete Götze ist und der Verrat von Grundsätzen der Anfang, das A und O aller Politik. Lenin hat in vorbildlicher Weise gezeigt, wie man Politik macht, ohne aufzuhören, Kommunist zu sein, wie man sich dadurch täglich mit den Massen verbindet und mehr macht als Politik, nämlich Geschichte. Lenin war bei all seinem Glauben an das Endziel der größte, der genialste Realpolitiker aller Zeiten und Länder.“ (3) Wie wahr – und wie aktuell!
Und der führende englische Kommunist Theodor Rothstein schrieb 1924: „Aber worin Lenin absolut selbständig ist, worin er durchaus keine Vorläufer hat, und worin also die Originalität seines Denkens und die Gewalt seines Willens in der intensivsten Weise zum Ausdruck kamen, das ist die Schöpfung und die Idee des Sowjetstaates.“ (4)
1. Lenin über die sozialistische Gesellschaft, insbesondere den sozialistischen Staat
Egon KRENZ nannte in seinem Vortrag zum 65. Jahrestag der Gründung der DDR – zögernd, es in einem Satz tun zu sollen – als Ursache des Scheiterns des sozialistischen Staates auf deutschem Boden den Rückstand in der Arbeitsproduktivität (gegenüber der Bundesrepublik Deutschland). Er fügte hinzu, daß schon LENIN die Arbeitsproduktivität als das Entscheidende für den Sieg des Sozialismus im Wettlauf mit dem Kapitalismus benannt habe. Und das hätten wir eben nicht geschafft, sondern wären nach 40 Jahren des Laufens ein Drittel der Rennstrecke dahinter geblieben.
Da erheben sich doch Fragen. Was genau hat LENIN als das Entscheidende, das Wesentliche, das Fort-schrittliche, das Überlegene der veränderten Gesellschaftsordnung angesehen? Das kann doch keine abstrakte ökonomische Kennzahl – ein „Fetisch“ neuer Art – sein. Eine post-profitorientierte Gesellschafts-ordnung auf ökonomische „Werte“ zu reduzieren, hieße den Teufel durch Beelzebub zu ersetzen.
LENIN traf seine Aussage im April 1918, fünf Monate nach der Oktoberrevolution, in seinem Aufsatz „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“. Er nannte darin sowohl „Rahmenbedingungen“ als auch Zweck einer höheren Arbeitsproduktivität. Des Zusammenhangs und Wechselspiels der Arbeitsproduktivität im Arbeiter-und-Bauern-Staat mit derjenigen in den umgebenden kapitalistischen Staaten war er sich wohl bewusst. Er sah in einer effektiven Arbeitsorganisation („Taylor-System“), der wirtschaftlichen Rechnungsführung und der Entwicklung der energetischen Basis die nächstliegenden Aufgaben, damit »jeder Werktätige nach Erfüllung des [werktäglichen] achtstündigen Pensums produktiver Arbeit unentgeltlich an der Ausübung der Staatspflichten teilnimmt. (Darin [an der „Mitwirkung an Pflichten als Staatsbürger“]) … liegt das Unter-pfand für die endgültige Festigung des Sozialismus.« Es ging ihm um die »Hebung des produktiven Könnens der Werktätigen«, damit diese Zeit für die Ausübung politischer Aktivitäten (für die „Volksdemo-kratie“) gewönnen. „Stoppuhr“ und „Ziffernskala“ für einen schmalbahnigen Wettlauf, der ganz und gar nicht sportlich sein würde, nannte er nicht. LENIN sah ihn als einen disziplinierten »massenhaften Vormarsch« an, nicht als ein Kampf um Symbole und Trophäen – und schon gar nicht als Selbstzweck.
Was haben wir also falsch gemacht, seitdem LENIN als Vordenker ausschied? Oder – den geschichtlichen Zeitraum und die Verantwortung einengend – was haben die Führer des „sozialistischen Lagers“ falsch gemacht, nachdem dieses Ende der 1940er Jahre durch Vormarsch der hoffnungsvollen Volksmassen in Osteuropa und in China rings um die Sowjetunion entstanden war? Haben die militärischen Sieger zu sehr auf ihr Marschall-Insignien gepocht? Haben sie geglaubt, daß ein „Gleichgewicht des Schreckens“ ein „Gleichgewicht der Zufriedenheit“ ersetzen kann? Haben die sozialistischen Sieger gemeint, die „Zeit“ arbeite für sie (während die kapitalistischen Sieger „Geld“ für sich arbeiten ließen)? Warum unterließen es die sozialistischen Staatsführer, das „sozialistische Haus“ zu bauen, gemeinsam zu organisieren und vor ihren Völkern Rechenschaft abzulegen?
KRENZ’ Report über den Zustand des „Warschauer Paktes“ (den „Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe“ erwähnt er gar nicht erst) im Jahre 1989 enthüllt erschreckende Versäumnisse im Vordenken der Paktführer, ohne das ein »Vormarschieren« gar nicht möglich ist. Mit »Staatspflichten« hatte LENIN die „Souveräns-pflichten“ gemeint, das „Mitplanen“ und „Mitregieren“. Es hat nicht an Versuchen der Volksmassen gefehlt, ihre „verordneten Staatsführer“ auf Versäumnisse und Fehlentwicklungen hinzuweisen. Die Antwort war: „Keine Fehlerdiskussion!“ Das „Reale“ war die weitverbreitete Selbstzufriedenheit mit dem »staatskapi-talistisch« wirtschaftstechnisch Erreichten innerhalb der eigenen Grenzen und das Ausblenden der Schöpfer-kräfte der „Massen“ – der „Subsidiarität“ der gesellschaftlichen Entscheidungen. Technische Innovationen, die sowohl die Produktivität der eigenen Ressourcen steigern als auch die wirklichen Kosten der Produkte unter diejenigen des „Weltmarktes“ senken, blieben Ausnahmen. Der „schonungslose Weltstandsvergleich“ blieb eine Losung. Der Sozialismus existierte „real“, aber er marschierte nicht vor. Gut ausgebildete „Köpfe“ und „Hände“ rannten gegen „ideologische Wände“, lange ehe eine „Mauer“ gebaut wurde. Die »Staats-pflichten« wurden weder national noch im „Bruderbund“ erfüllt.
Unsere Gesprächsrunde im März war dem 100. Jahrestag der Oktoberrevolution gewidmet. Konkret ging es um das Thema:
„Der Kampf Lenins für die Macht der Sowjets.
Von den „Aprilthesen“ 1917 bis zu „Lieber weniger, aber besser“ 1923″
Elke und Heiner haben das Video gemacht. Die Diskutierenden am Ende sind Walentina und Gina.
England und Frankreich sind die zivilisiertesten Staaten der Welt. London und Paris sind Weltstädte mit einer Bevölkerung von 6 bzw. 3 Millionen. Die Entfernung zwischen ihnen beträgt 8-9 Stunden. Man kann sich vorstellen, wie umfangreich die Handelsbeziehungen zwischen diesen Hauptstädten sind, welch eine Unmasse von Waren und Menschen ständig von einer zur anderen in Bewegung ist.
Und nun beraten die reichsten, zivilisiertesten, freiesten Staaten der Welt mit Zittern und Zagen – und bei weitem nicht zum erstenmal! – die „schwierige“ Frage, ob man unter dem Ärmelkanal (der Meerenge, die England vom europäischen Festland trennt) einen Tunnel anlegen könne. Die Ingenieure haben schon längst berechnet, daß man dies kann. Geld haben die Kapitalisten Englands und Frankreichs mehr als genug. Das so angelegte Kapital würde unbedingt Profite bringen.
Was aber hat die Sache aufgehalten?
England befürchtet… eine Invasion! Sehen Sie, der Tunnel würde „unter Umständen“ den Einfall feindlicher Truppen in England erleichtern. Und deshalb bringen die militärischen Autoritäten in England nicht zum erstenmal den Plan des Tunnelbaus zum Scheitern.
Wenn man das liest, kann man sich über den Irrsinn und die Verblendung zivilisierter Völker nur wundern. Ganz abgesehen davon, daß es bei den heutigen Mitteln der Technik eine Sache weniger Sekunden wäre, den Verkehr im Tunnel stillzulegen und den Tunnel völlig zu zerstören.
Doch die zivilisierten Völker haben sich in die Lage von Barbaren hineinmanövriert. Der Kapitalismus hat bewirkt, daß die Bourgeoisie zur Irreführung der Arbeiter gezwungen ist, das Volk in England mit idiotischen Märchen von einer „Invasion“ zu schrecken. Der Kapitalismus hat bewirkt, daß eine ganze Reihe von Kapitalisten, die durch den Tunnelbau „einträgliche Geschäftchen“ verlieren würden, alles in Bewegung setzen, um den Plan zu Fall zu bringen und den technischen Fortschritt aufzuhalten.
Die Furcht der Engländer vor dem Tunnel ist die Furcht vor sich selbst. Die kapitalistische Barbarei ist stärker als jegliche Zivilisation.
Wohin man auch blickt, auf Schritt und Tritt findet man Aufgaben, die sofort zu lösen die Menschheit durchaus imstande wäre. Der Kapitalismus aber steht hindernd im Wege. Er hat Berge von Reichtümern angehäuft – und die Menschen zu Sklaven dieses Reichtums gemacht. Er hat komplizierteste Probleme der Technik gelöst – jedoch die Verwirklichung technischer Verbesserungen infolge des Elends und der Unwissenheit von Millionen, infolge des engstirnigen Geizes einer Handvoll Millionäre gehemmt.
Die Zivilisation, die Freiheit und der Reichtum im Kapitalismus erinnern an den Reichen, der sich überfressen hat, bei lebendigem Leibe verfault und nicht leben läßt, was jung ist. Aber das Junge wächst und wird siegen, trotz alledem.