Landesverband Berlin im
Deutschen Freidenker-Verband e.V.

„Heißer Herbst“ – Sozialer Protest unter den Bedingungen von Weltkrieg und Faschisierung. Strategische Fragen

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Einleitungsreferat auf der Magdeburger Vorstandstagung des Deutschen Freidenker-Verbandes am 16. Oktober 2022 von Klaus Linder

I

Das Thema würde den Aufriß des Gesamtzusammenhangs erfordern, also der Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse unter monopolkapitalistischer Klassenherrschaft im Kriegszustand und hart an der Vorbereitungsphase der Errichtung einer faschistischen Diktatur. Das ist die Totalität in der wir uns jetzt gerade bewegen und in der jeder politische, ökonomische und auch friedenspolitische Widerstand einen übergreifend antifaschistischen Charakter annimmt. Dieser antifaschistische Charakter spiegelt sich auch bereits in Hauptlosungen wie „Nordstream 2 öffnen“, „Weg mit den Sanktionen“, oder gegen jede deutsche Unterstützung des NATO-Krieges in der banderistischen Ukraine.

Dabei bestimmen uns die nationalen und die internationalen Aspekte der aufbrechenden Widersprüche gleichermaßen. Ich halte es deshalb für einen Irrweg, eine für sich stehende „soziale Frage“ als innenpolitisches Thema abtrennen zu wollen, dabei aber im übrigen die außenpolitischen NATO-Vorgaben unbeanstandet zu lassen und ins Hinterland weiterzureichen. Die Hauptlosung, mit der sämtliche Auseinandersetzungen grundsätzlich der Partei der Kriegstreiber, und damit des Faschismus, untergeordnet werden sollen, ist die Demagogie vom angeblichen „verbrecherischen völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg“ und das Ritual seiner „Verurteilung“. Ich überlasse es euch zu beurteilen, in welchem Maße dazu seit Februar die Institutionen und Verwalter insbesondere der westdeutschen Friedensbewegung instrumentalisiert werden. Es werden sich aus der Kriegssituation keine konsequenten und geeinten Kämpfe um Demokratie, Frieden, Volkssouveränität, nationale Selbstbestimmung und eben die sozialen und wirtschaftlichen Interessen entfalten können, wenn dem Gegner diese Losung nicht aus den Händen geschlagen wird. Das gilt auch dann, wenn sie nicht ausgesprochen, aber stillschweigend vorausgesetzt wird, als sei sie unterdessen ein allgemeiner Konsens geworden. Das ist sie nicht.

Euch ist geläufig, was die gesamte politische und ökonomische Welt derzeit mit Riesenschritten, fast Sprüngen, bewegt, sowohl in Richtung des Menschheitsfortschritts und der Befreiung als auch in Richtung der tiefsten Reaktion, Verelendung und letzten Konsequenz des imperialistischen Weltkrieges, der von den USA und ihren Verbündeten ausgeht. Die EU inbegriffen, können sie diese Ziele nicht mehr erreichen, ohne immer offener zu den Methoden des Faschismus und auch des Terrorismus überzugehen.

Beim Stichwort EU möchte ich nicht nur a propos bemerken: Die Losung: „Deutschland raus aus der NATO- NATO raus aus Deutschland“ ist durchweg richtig. Aber selbst eine richtige Losung kann wirkungslos werden und einen abstrakt-utopischen Charakter annehmen, wenn sie nur in einer unverbundenen Aufzählung als Forderung unter anderen vorkommt. Sie muß in einen echten Zusammenhang, in eine Schrittfolge und Handlungsordnung mit anderen Losungen gesetzt werden. Meine These: Wir haben heute dringend den Kampf gegen die EU damit zu verbinden. Nicht einen Kampf „für die Verbesserung der EU“, sondern den Kampf gegen das Völkergefängnis EU und für die Befeuerung der Tendenzen, die zu ihrem Zerbrechen drängen. Das scheint mir gerade jetzt ein notwendiges Kettenglied zur Zersetzung der NATO zu sein.

II

Ich möchte keine Landkarte zeichnen, der zu entnehmen wäre, in welcher Form, mit welchen Inhalten und an welchen Orten in Deutschland und anderen Ländern gerade zahlreiche Proteste und Streiks stattfinden. Diese Kenntnisnahme ist wichtig. Aber wer sie sich verschaffen will, wird nicht umhinkommen, außer der zumindest beobachtenden Teilnahme an Protesten, auch eine Vielzahl von Medien, Telegramkanälen und so weiter zu durchforsten. Das alles zusammenzutragen kann heute nicht meine Arbeit sein. Da aber auch ich viel Zeit damit verbringe, kann ich bestätigen, was niemand bezweifeln wird: In der „Berichterstattung“ über Proteste wird die seit 2020 geübte Methode fortgesetzt. Vereinzeltes wird medial aufgebläht, das Gesamtbild wird verdeckt. Die Zerstörung von Zusammenhang ist das Grundprinzip dieser Propaganda und wirkt noch tiefer desorientierend als die allgegenwärtigen Denunziationen. Die meisten Medien berichten fast nur über Kundgebungen, wenn sie gleichzeitig eine sogenannte Gegendemonstration ins Bild und vors Mikrofon bekommen, die dann ins Zentrum der Berichterstattung gerückt wird. Die größere Masse der eigentlich Demonstrierenden wird als bloßes Objekt behandelt, über dessen Antriebe, Ziele und Bewußtseinszustände dann in Expertenrunden von Küchensoziologen spekuliert werden darf. Dabei zeigt das rein reaktive Konzept der arrangierten „Gegendemonstrationen“ bereits deutlich, wie nah die Herrschenden in der Frage der Hegemonie bereits mit dem Rücken zur Wand stehen, wenn die Kooperation von Bevölkerungsmehrheiten zu schwinden beginnt..

Oder, wie gesagt, man erfährt gar nichts davon.

Ich zum Beispiel war am letzten Wochenende auf der Kundgebung in Brandenburg an der Havel – gegen Kriegsbeteiligung und Sanktionen, für russische Energie und Nordstream, für Frieden mit Russland, Völkerfreundschaft und deutsche Neutralität. Es waren etwa 1500 Menschen. Den Veranstaltern war hier immer noch ein innerer Zwiespalt anzumerken. Es sind Persönlichkeiten eher aus Kreisen ehemals linker Organisationen. Sie haben aber von der NATO-Kriechspur, auf der diese linken Organisationen sich bewegen, die Nase schon voll. Das heißt, sie organisieren schon Demonstrationen, glauben sich aber immer noch rechtfertigen zu müssen vor den Hetzkampagnen, die gegen diese Demonstrationen aus ihren eigenen Stamm- und Ursprungsmilieus organisiert werden. Sie glauben häufig noch beteuern zu müssen, dass sie doch gar nicht die „Rechten“ sind, als die sie hingestellt werden. Das ist nachvollziehbar, aber fruchtlos. Wir sollten niemals auf dem Boden und mit den Waffen und Begriffen des Gegners kämpfen. Schon nach der allerersten Brandenburger Demo ging die Hetzkampagne los. In jene Demo wurde ein Ordner eingeschleust, der seine Kamera mitbrachte. Mit dieser ausgestattet machte er sich auf die Suche nach „Rechten“. Er wurde fündig: Er sah bei einem Demonstranten Socken in schwarz-weiß-roter Farbe. Aha, ein Reichsbürger. Die Socke wurde fotografiert und das Sockenfoto den zuständigen Medien durchgestochen. Die Inquisitionsmühle setzte sich in Gang. Sie kreißte und ein Shitstörmchen gegen den Veranstalter war geboren. Härtergesottene hätten ihm gesagt: Freu dich über die Werbung, aber verhalte Dich nicht so, als müssten wir Demonstrierende dem noch Rede und Antwort stehen oder uns gar rechtfertigen. Aber sein Zwiespalt spiegelt die Gesamtlage. Wie diese Art Druck sich durchsetzt, ist lokal verschieden. Aber dieser Druck ist zentral vorgegeben und wird dann mit Akteuren vor Ort verabredet. Das führte in Brandenburg dazu, dass der Demo-Anmelder sich von einem Transparent vorab distanzierte, dass den einhelligen Beifall der Menschen auf dem Platz fand. Darauf stand geschrieben: „Diese Regierung gehört weggesperrt“. Der Geßlerhhut wurde gegrüßt, aber die Losung wurde nicht der Demo verwiesen und lief mit.

Das war schon ein Schritt in die richtige Richtung. Ob die Geßlerhüte noch gegrüßt werden, oder ob bereits eine Entwicklung zu Selbstbewußtsein und Souveränität gegenüber der ideologischen „Betreuung“ einsetzte, ist auch davon abhängig, ob Demonstrationen bereits Kontinuität, kollektives Gedächtnis und Entwicklung aufweisen, in Formen und Inhalten. Solche Kontinuität kann beispielsweise mit Montagsdemonstrationen und „Spaziergängen“ gegeben sein. Es mag paradox erscheinen, aber innere Entwicklungsräume sind auch gerade dort gegeben, wo sie nicht von Lautsprecherwagen, bestellten Bühnenrednern und aufwändigen technischen Apparaten nebst ihrer Finanzierung beherrscht werden. Die bereits vorliegende Erfahrung sagt, daß solche „Formate“ ihre Ebbe und Flut haben, sie wachsen und schrumpfen in Wellen, auch in Abhängigkeit von den Hauptthemen, die die sozialen und politischen Widersprüche jeweils dominieren. Die alten Themen – etwa gegen den autoritären Maßnahmenstaat, der mit der Corona-Phase eingeleitet wurde, und als zweite Stufe die sogenannte Impfpflicht -, werden nicht einfach von den neuen Themen abgelöst und wegsortiert. Sie erscheinen aufgehoben in dem neuen Thema, der neuen umfassendsten und klarsten Ausprägung der Frontlinie, wieder – und das ist heute die Kriegspolitik und Sanktionenwirtschaft gegen Rußland und China mit den Folgen radikaler Verarmung, Entbehrungen, Arbeiterelend und massenhaften Insolvenzen des Kleinbürgertums; wahrgenommen als Deindustrialisierung oder Auslagerung bei Konzentration des Kapitals und als eine alles überlagernde grün-faschistoide Verzichtsideologie bei vertiefter Spaltung der Gesellschaft. Es wäre eine wichtige organisatorische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die heutigen Proteste sich nicht an den alten Themen einfach festbeißen, sondern zur neuen veränderten Frontlinie aufschließen. Das heißt zum Beispiel, dass es den Herrschenden nützt, wenn Spaziergänge sich weiterhin hauptsächlich auf „Corona“ fixieren lassen. Ich behaupte damit nicht, daß Corona-Verordnungen damit in Deutschland als Herrschafts-Instrument vom Tisch sind. Aber das Verordnungs-Regieren der Exekutive wurde damit nur eingeführt, während es bei Habecks Hunger-Verordnungen heute bereits antidemokratische Selbstverständlichkeit ist. Die EU-deutsche Coronapolitik war, wie unser Genosse Thomas Loch kürzlich formulierte, ein Mittel der Politik, das die heutige Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln vorbereitete. Und diese Fortsetzung ist jetzt der antirussische Krieg, der Wirtschaftskrieg und die Kriegswirtschaft, die ihre früheren pseudo-ökologischen, pseudo-gesundheitspolitischen Masken hat fallen lassen.

Die eher verstetigten, kontinuierlichen Formen von Protesten bieten die Voraussetzungen für mögliche lernende Bewegungen, die in günstigen Fällen sich schützen lernen gegen die ganze Palette von Diversion, Unterwanderung, Vereinnahmung, Agents Provocateurs. Die erste Frage lautet: Handelt es sich um Strohfeuer, wie wir sie oft kommen und gehen sehen, oder sind gegenwärtige Proteste nicht doch die gesellschaftlichen Antworten auf sehr tiefgreifende Veränderungen, die auch selber sehr tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen beabsichtigen. Herausfinden kann man das nur, wenn man hingeht und vergleicht. Dann wird sich allerdings eine, noch ungelöste, langwierige organisatorische Aufgabe abzeichnen, die in der Überwindung des großen Bestandteils von Spontaneität besteht, unter dem sich Proteste noch weitgehend befinden. Diese Spontaneität gehört natürlich auch dazu, aber sie eröffnet dem Gegner stets breite Möglichkeiten der Einflußnahme.

Meine Meinung ist: Auch wenn wir all das schon sehen, müssen wir uns aller Versuchungen entschlagen, notwendige Zwischenschritte zu überspringen. Wir müssen einstweilen davon Abstand nehmen, aus dem Stand als organisierendes Zentrum von größeren Protesten in Erscheinung treten zu wollen. Nichts schadet revolutionären Prozessen mehr als Dinge zu versprechen, die man noch nicht halten kann. Das klappt weder in der virtuellen noch in der realen Welt. Wir sollten uns entschieden der kurzsichtigen und zugleich überheblichen Illusion entschlagen, dass wir durch das Zusammenwürfeln von Themen Laborformeln gefunden hätten, mit denen irgendjemand „Bewegungen zusammenführen“ könnte. Das sind Fantasiegebilde aus der Welt des sozialen Engineering, der PR und ihrer bestallten Bewegungsmanager. Unsere eigene Bewegung, die revolutionäre Arbeiterbewegung, befindet sich in Deutschland, nach Niederlagen, in einer Ebbe. Gewiß haben wir Antworten, die uns und anderen den Gesamtzusammenhang unserer eigenen Handlungen erklären und die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, in denen sie stehen – nämlich die marxistisch-leninistische Theorie. Deren Aneignung geschieht heute aber ihrerseits, als Folge organisationspolitischer Zerklüftung, ebenfalls weitgehend spontan, deshalb fehlt ihr wesentliches Element: die Praxis. Das läßt sich nicht durch bloße Appelle, Petitionen, unentwegte Unterschriftensammlung und „Vernetzung“ aus der Welt schaffen.

Der erste Schritt, beiderseits da herauszukommen ist das Ringen um die richtigen Losungen, ihren organischen Zusammenhang und ihre wirksamste Anwendung. Viele richtige Losungen sind bereits auf der Straße. Die Ebbe des Marxismus-Leninismus in den imperialistischen Hauptländern ist nur ein historischer Übergangszustand bis zur nächsten Flut, aber der erfordert Geduld, Fädenknüpfen und sehr aktives Zuwarten. Aktuell kommt hinzu, dass das, was hierzulande den Ausdruck „Die Linke“ in Beschlag nahm, unter den werktätigen Massen unwiderruflich diskreditiert ist, da es seit 32 Jahren mit der konterrevolutionären Offensive tief verwoben ist und von dieser zuerst mit aller historischen Grundsätzlichkeit wieder getrennt werden muß. Die Partei gleichen Namens wird von den Werktätigen definitiv nicht mehr gewählt. Es ist abermals eine sowohl kurzsichtige als auch überhebliche Illusion, wenn sie das nun durch die erneute Einhegung von außerparlamentarischem Widerstand glaubt kompensieren zu können. Auch hier erscheint als ideologischer Grundzug der fatale Fehler, die Massen als bloßes Objekt zu behandeln und bei jeder Gelegenheit die alte bourgeoise Platte von der ach so zersplitterten, eigentlich gar nicht vorhandenen und wesensmäßig passiven Arbeiterklasse aufzulegen – eine Reaktionsweise, die nicht nur den eigentlich herrschenden Kreisen eigentümlich ist, sondern auch vielfältigen Formen des ‚linken‘ Opportunismus. Letztlich handelt es sich um einen subjektiven Idealismus, der zwar die Massen beschwört, aber in bloßem Aktionismus und dem darauf folgenden Katzenjammer endet. Wir können uns in dieser Lage nicht verhalten wie die russischen Volkstümler des XIX. Jahrhunderts, die glaubten, es reichte aus, daß die Intelligenz in entsprechender Tracht zu denen ging, die sie irrigerweise für die revolutionäre Hauptkraft hielten, um sie zur gewünschten Rebellion zu bewegen oder aber die sich abzeichnende Rebellion in die gewünschten Kanäle zu leiten. Sie machten nicht selten die Erfahrung, daß die so bedachten subalternen Klassen zur Mistgabel griffen und sie aus dem Dorf vertrieben. Es reicht auch nicht, wie Luther dem Volk, „dem Haufe“, der Klasse aufs Maul zu schauen, wenn man die Sache dieses Volkes im Ernstfall nicht vertritt.

III

Um auf mein Erlebnis vom vergangenen Wochenende zurückzukommen. Dergleichen Kundgebungen sind in der schwer befestigten reaktionären Hochburg Berlin derzeit nicht möglich. Sie scheinen das Bild zu bestätigen: „Im Osten“ brodelt es, aber „der Westen“ bleibt unter Kontrolle. Einerseits ist das wahr: Die deutlichsten Losungen und stetigsten Massenkundgebungen finden überwiegend auf dem Territorium der DDR statt – und keineswegs immer in den größten Städten. Im „urbanen“ Dresden und Leipzig geraten sie nur deshalb ins Augenmerk, weil die herrschenden Kreise und Medien dort am ehesten die Möglichkeiten haben, wahrnehmbare Gruppen reaktionärer sogenannter Gegendemonstranten zusammenzuscharren. Andererseits ist das Ost-West-Bild aber in dieser Schematik auch falsch. So erfuhr ich letzten Samstag wieder nur durch private Kanäle, daß gleichzeitig in Hannover eine Kundgebung mit ganz ähnlichen Losungen und deutlich „prorussischer“ Ausrichtung stattfand. Sie hatte 4000 Teilnehmer. Und an anderen Orten ebenfalls.

Ich habe folgende These zur lokalen Verteilung der Proteste: Es ist derzeit aussichtslos ein Protestgeschehen aus den am reaktionärsten abgesicherten Metropolen heraus, also besonders aus Berlin, entfachen zu wollen. Gerade die grün-rote Reaktion hatte hier jahrzehntelang Gelegenheit, in Zusammenarbeit mit staatlichen Diensten, Stiftungen und „Nichtregierungsorganisatonen“ ihre Methoden zu verfeinern, um die sogenannte Zivilgesellschaft im Sinne der herrschenden Klassen lähmend zu unterwandern, quasi selber die Proteste gegen sich zu organisieren und ihnen gleichzeitig mit Regierungsbefugnissen gegenüberzutreten. Solange das nicht beseitigt wird, werden diese Schutzwälle nicht in einem Coup zu durchbrechen sein. Der Ruf: „Alle nach Berlin“ ist derzeit verfehlt. Meine These also: Authentische Proteste entfalten sich derzeit „in der Fläche“. Kenner und Liebhaber mag der Vorgang eher an die Formel Mao Tse-Tungs von der Einkreisung der Städte durch das Land erinnern.

Ein Grund für die Vorreiterposition der kolonisierten DDR in den gegenwärtigen Klassenkämpfen liegt auf der Hand. Sie war ab 1990 bereits Schauplatz der größten und brutalsten Deindustrialisierung und Enteignung einer ganzen Volkswirtschaft in Deutschland. Was außer der Arbeiterklasse nun Handwerker und nichtmonopolistische Unternehmer auf die Straße treibt, ist, außer der unmittelbaren Existenzvernichtung, das, was als gezielte Deindustrialisierung und Zerstörung des gesamten nationalen Wirtschaftsgefüges durch die Monopolbourgeoisie wahrgenommen wird, mitsamt manipulierter Preistreiberei. Dabei ist es ganz egal, ob diese volksfeindliche Verelendungs-Offensive nun unter der Maske „Sanktionen gegen Putin“ oder unter der Maske „Energiewende“, „Klimarettung“, „Defossilisierung“ usw. durchgesetzt wird – es sind zwei Verkleidungen ein und derselben Sache im Auftrage ein und derselben Klasse. Auch die Bauern beginnen auf ihre Weise zu reagieren, wobei sie über ein Jahrzehnte umfassendes Wissen über die Rolle der EU-Diktatur bei dieser radikalen Offensive verfügen.

Und selbstverständlich wirkt „im Osten“ ein Grundelement der sozialistischen Bildung weiter, das man im Westen unter kosmopolitischer Drapierung und EU-Ideologie vollkommen auszumerzen versuchte: nämlich die demokratisch-patriotische, auf nationale Selbstbestimmung ausgerichtete antiimperialistische Tradition der DDR. Ohne diese sozialistische patriotische Tradition lässt sich, mit dem Kampf gegen die deutsche Monopolbourgeoisie, der dringend gebotene Kampf gegen EU, NATO, USA und die transatlantische Unterordnung überhaupt nicht führen. Und es ist eben der sozialistische Patriotismus, der sich als die objektiv geschichtsmächtige Überwindung jedes bürgerlichen Nationalismus und Chauvinismus aus unserer eigenen nationalen Entwicklung ergibt. Wir brauchen diese Tradition der Volkssouveränität, auch wenn die dialektischen Windungen der Geschichte derzeit dafür sorgen, daß sie nur selten unter sozialistischen Vorzeichen auftritt. Hier liegt der Quellpunkt für die nahezu lückenlose Diffamierung von allem, was aus der DDR und ihrer politischen Kultur entstammt, als „rechts“. Diese richtet sich gegen das Fortleben des Antifaschismus unter den Bürgern der DDR, wobei der Pseudo-Antifaschismus des imperialistischen Altreichs als die tatsächlich „verordnete“ Besatzer-Ideologie erscheint, die er ist. Und – last but not least: Der volle Inhalt des Wortes „Druschba“ ist auf dem Territorium der DDR immer noch weit mehr als ein Lippenbekenntnis.

IV

Es treffen somit allgemeine und besondere Bedingungen zusammen. Das ist zum einen die allgemeine Krise des Kapitalismus, dessen historische Perspektive letztlich in der Alternative besteht, die Zivilisation zu vernichten, oder aber endlich von der geschichtlichen Bühne abzutreten. Wir erleben heute, daß ein entscheidendes Kettenglied für den zweiten Weg jetzt Konturen gewinnt, die den weiteren Gang der Geschichte bereits bestimmen. Damit meine ich den Aufstieg dessen, wofür vor einem Vierteljahrhundert der Ausdruck „Multipolare Weltordnung“ geprägt wurde. In diesem Begriff verbirgt sich das entschlossenste antikoloniale Programm. Daß die antikoloniale Seite, die Mehrheit der Völker und Staaten dieser Welt, nun die realistische Perspektive hat, zum handelnden Subjekt der Geschichte zu werden, verdanken wir in einem kaum zu überschätzenden Ausmaß jener Widerstandshandlung, die am 24. Februar als „Militärische Sonderoperation zur Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine“ begann.

Das alles spielt natürlich hinein in die Möglichkeiten, die Inhalte, aber auch in die Verhinderung oder professionelle Unterwanderung von Protesten in unserem Land.

Dabei geht es nicht nur um die allgemeine Krise des Kapitalismus, sondern auch um die besonderen zyklischen Krisen, die er mit zunehmender, verheerender Gewalt aus sich hervorbringt. Die besondere Krise, die Zuschärfung aller Klassenkämpfe, in der wir uns befinden, macht Massen-Proteste und -Streiks nicht nur notwendig, sondern wir hoffen natürlich: sie werden nicht zu verhindern sein. Die Register, die die imperialistischen Regimes zu ihrer Verhinderung ziehen, bedienen die gesamte Skala von Non-Stop-Propaganda und Massenbetrug, über hochprofessionelle, flexible Techniken der Diversion, Einbindung und Spaltung bis zum stufenweisen und offenen Terror gegen ganze Bevölkerungsmehrheiten. Daß dieser Terror keine ferne Möglichkeit am Horizont der vor sich gehenden Faschisierung mehr, sondern Realität ist, haben uns soeben die terroristischen Sabotage-Sprengungen gegen Nordstram 1 und 2 gezeigt, die die unlösbaren, nur gewaltsam auszutragenden Gegensätze inzwischen in die angeblich verbündeten NATO- und EU- Länder selber tragen. Darin kommt zum Ausdruck, dass das Wolfsrudel den Kampf gegen Russland und China nicht mehr gewinnen kann, und sich bereits in den Kampf zur Aufteilung der Beute untereinander verstrickt. Unter der Knute eines niedergehenden Hegemons geht die imperialistische Seite der Welt in den Kampf aller gegen alle über.

V

Eine der Besonderheit der Klassenkämpfe unter dieser Konstellation ist für uns meines Erachtens die uneinheitliche politische, ideologische, auch wirtschaftliche Situation der BRD.

Wer heute versucht Bedingungen zu sondieren für den Aufbau der Aktionseinheit gegen den NATO-Imperialismus und -Faschismus, wird nicht mehr davon ausgehen können, dass er es mit Gruppierungen, Vereinen, Organisationen zu tun hat, die so etwas wie eine einheitliche bundesweite Linie vertreten. Es ist gängige Erfahrung: Wer mit einer Bezirks-, Kreis- oder Landesgliederung einer Organisation, oder ihrem ansprechbarsten Teil, gemeinsamen Boden für sinnvolle Aktionen und übergreifende Losungen erarbeitet, der wird erleben können, daß die Bezirks-, Kreis-, Landesgliederung derselben Organisation ein paar Kilometer weiter oder in anderen Bundesländern das Gegenteil vertritt.

Natürlich schlägt sich die föderale Gliederung nach Bundesländern auch im Freidenker-Verband nieder. Und natürlich ist diese Strukturierung auch im Sinne des demokratischen Zentralismus geboten. Aber das Vorangehende bekräftigt mich in der Haltung, daß es falsch wäre, wenn mein Vortrag hier als Versuch einer Generalvorgabe des DFV zum Umgang mit Massenprotesten verstanden würde. Für die praktische Herangehensweise bleiben für mich zwei Dinge besonders zu beherzigen, wobei ich weder Relativismus noch Pluralismus im Sinn trage. Erstens: Wir müssen in möglichen Bündnissen oder einfachen Demonstrationsbeteiligungen der Versuchung widerstehen, uns vorschnell als organisierendes Zentrum dieser Bestrebungen zu überschätzen. Andererseits dürfen wir uns niemals zum bloßen Nachtrab hinter einem Aufruf nötigen lassen, auf den wir sowenig Einfluß haben wie auf die Redebeiträge und Losungen der Veranstaltung. Wir sollten uns nicht ins Bockshorn jagen lassen durch Versuche, uns bei bewußtem Fernbleiben als „Sektierer“ und „Praxisverweigerer“ zu mobben. Es geht uns ja gerade darum, sinnvoller Praxis den Weg erst wieder frei zu machen. Zweitens: Wir müssen anerkennen, dass die Bedingungen sich bildender Protestzusammenhänge lokal sehr unterschiedlich gelagert und zusammengesetzt sind. Das bedeutet: In unseren lokalen Gliederungen müssen wir alles Fingerspitzengefühl und alle politische Erfahrung zur Anwendung bringen, um sämtliche Faktoren abzuschätzen, die wir vorfinden, bis hin zur Auswahl der Mitstreiter. Das kann an einem Ort auch die Organisation X sein, an einem anderen Ort befindet sich dieselbe sogar auf der Gegenseite. Ein aussagekräftiges Transparent kann an einem Ort wirkungslos verschluckt und falschen Losungen eingemeindet werden, kann aber an einem anderen Ort einen wichtigen Akzent setzen. Auch das Mitführen von Freidenker-Fahnen kann bei der einen Gelegenheit nützlich sein, während man es bei anderen Gelegenheiten besser unterlässt. Wir sollten also unsere freie Souveränität aus den lokalen Gegebenheiten in den Landesverbänden heraus so entwickeln, dass wir nicht grundsätzlich aufs Mitmachen abonniert sind, uns aber auch nicht grundsätzlich da fernhalten, wo wir die Dynamik einer Bewegungsform noch nicht überblicken. Eine Generallinie würde ich allerdings denn doch vertreten: Wir sollten in allen Fällen jeden noch so kleinen Kniefall, jede als Zweideutigkeit oder Einlenkungsbereitschaft auslegbare Geste gegenüber der Ukro-NATO-faschistischen Eingemeindungsmaschinerie standhaft verweigern. Die Kehrseite dieser Eingemeindung ist die permanente Ausgrenzung. Und es gilt nahezu absolut: Wer uns unter blaugelben Fahnen, im Schulterschluß mit der GRÜNEN Speerspitze der Faschisierung und ihrer Ideologie gegenübertritt, ist ein so eindeutiger Unterstützer des Faschismus, daß er kein Recht hat, für seine demagogischen Aussagen, wer in diesem Lande als „rechts“ zu gelten habe, noch Gehör zu finden.

Ich erwähnte oben, daß Losungen für die Öffnung von Nordstream und andere einen übergreifenden antifaschistischen Charakter annehmen. „Annehmen“ bedeutet hier nicht, daß wir diesen Losungen von außen ein „Antifa“-Etikett aufdrücken müßten. Angesichts des Wesens der Monopol-Offensive ist dieser Charakter von Keimen einer antifaschistischen Aktionseinheit der Werktätigen und Kleingewerbetreibenden solchen Demonstrationen objektiv eigentümlich. Ich möchte es zum Schluß verallgemeinern: Die unbedingte Verteidigung der gesamten Produktionssphäre ist eine Kernbastion dieser Aktionseinheit. Sie richtet sich auch gegen die nicht bloß opportunistischen, sondern reaktionären Versuche, die sogenannte soziale Frage auf bloße Umverteilungen in der Reproduktionssphäre zu verschieben und damit die Kriegswirtschaft und Kriegspolitik als solche unangetastet zu lassen. Das bedeutet nichts anderes als sie zu unterstützen.

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 21. Oktober 2022 um 13:05 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Allgemein abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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