Im Folgenden dokumentieren wir die Abschlussrede von Klaus Linder.
Bleibt unbeirrbar!
Rede von Klaus Linder
Liebe Versammelte,
als ich die Einladung erhielt, hier zu reden, nahm ich Bücher mit den Reden Luxemburgs und Liebknechts. Dort steht viel mehr auf die heutige Lage Zutreffendes, als in meine Rede passt. Ein Zitat von jedem werde ich bringen.
Corona, umständehalber
Ich möchte aber an den Anfang eines von Johann Wolfgang von Goethe stellen. Es lautet:
„Vor allem aber sollte der Analytiker untersuchen oder vielmehr sein Augenmerk dahin richten, ob er denn wirklich mit einer geheimnisvollen Synthese zu tun habe, oder ob das, womit er sich beschäftigt, nur eine Aggregation sei, ein Nebeneinander, ein Miteinander, oder wie das alles modifiziert werden könnte.“
Unsere Kundgebung ist Teil dessen, was am 10. Januar mit LL-Demo und Stillem Gedenken begann. Es war eine entkernte Demonstration, die sich der Provokationen und Spaltungen von innen und außen erwehren musste.
Für sie gilt, was für uns heute gilt: Seit dem schwersten jüngsten Angriff gegen die parlamentarische bürgerliche Demokratie, dem „3. Infektionsschutzgesetz“, ist darauf zu bestehen, dass unsere Kundgebungen überhaupt stattfinden!
Auf der eingeschränkten LL-Demo gab es eine Polizeiprovokation von außen, die der Rechtsgrundlage entbehrte. Dass Teile der Berliner Linkspartei zuvor aufforderten, genehmigtes Stilles Gedenken in den März zu verschieben, ist Spaltung von innen.
Danke an alle, die sich am 10. Januar nicht beirren ließen! Versammlungsfreiheit wahrzunehmen, ist unter dem volksfeindlichen Gesetz ein Teilsieg.
Hier ein Beispiel, warum das so wichtig ist: Unter dem Schleier von Gesundheitsschutz wird Privatisierung und Schließung von Kliniken weitergetrieben. Proteste dagegen wären das Naheliegendste. Sie werden verboten aufgrund des Artikels 28 des Infektionsschutzgesetzes. Als sei der eigentliche Schlag gegen den Gesundheitsschutz nicht die Privatisierung einer Klinik, sondern die verantwortungsvolle Protestversammlung für ihren Erhalt!
Corona als Privatisierungstreiber im Pflegenotstand – das ist deutsche Realität; aber nicht chinesische Realität, nicht vietnamesische, kubanische oder venezolanische.
Wir müssen nicht, um eine Gegenposition zu artikulieren, die objektive Realität von „Corona“ grundsätzlich in Abrede stellen, als sei mit einer bloßen Bewusstseinsänderung die Sache aus der Welt. Es reicht, die Einschätzung der Gewerkschaft ver.di anzuführen, dass in jenem Art. 28 mit den dort fixierten Inzidenzzahlen positiver Fälle dem Würfelspiel willkürlicher Verbotsmaßnahmen alle Türen geöffnet werden. Und so wird das benutzt.
Es ist also doppelt gut, dass wir heute hier stehen. Es ist auch gut, dass wir hier nicht deshalb stehen, weil wir an Glaubenskämpfen teilnähmen wie der Spalterfrage, ob ein Mensch ohne Maske mehr Willensfreiheit respektive Einsicht besäße als ein Mensch mit Maske, sondern weil wir eine dritte, gemeinsame, große Sache vor Augen haben.
„Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ (Karl Liebknecht)
Ich komme zum ersten meiner Zitate. Es ist von Karl Liebknecht und lautet: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“.
In der Bundesrepublik, dem Herzen der Reaktion in Europa, gibt es kaum Schwerpunktsetzungen, die nicht zu Grabenkämpfen alsbald verkämen. So auch diese Aussage.
Als Liebknecht die Losung als Flugblatt herausbrachte, ging es um die Grundsituation, dass im I. Weltkrieg sich zwei annähernd gleichstarke imperialistische Blöcke gegenüberstanden. Und Deutschland eröffnete mit dem Krieg gegen Russland, den ein Bismarck noch abzuwenden suchte, jene Ostlandreiterei, die sich über den deutschen Faschismus und dann offen wieder nach der Liquidierung der DDR als eine Grundlinie des deutschen Imperialismus hält.
In jener Weltkriegssituation fast gleich starker Imperialismen sagte Liebknechts Losung das Richtige, um dem aufholenden, junkerlich-bourgeoisen wilhelminischen Militarismus in den Arm zu fallen.
Seit der deutschen bedingungslosen Kapitulation 1945 sieht die Sache anders aus. Von gleichem Kräfteverhältnis kann die Rede nicht sein, nicht in den transatlantischen Beziehungen. Die USA stiegen auf zum Hegemon der imperialistischen Welt, und eine kurze Zeit nach 1990 glaubten ihre reaktionärsten Kreise, sie könnten nun dauerhaft sich zur alleinigen Vorherrschaft global aufschwingen.
Aber die Kralle greift immer weniger fest, sie hatten die Rechnung ohne die Kräfte des historischen Fortschritts gemacht. Welche Rolle aber die alte Besatzungsmacht in Deutschland weiterhin spielt, ist uns allen klar, wenn wir am Fliegerhorst Büchel gegen US-amerikanische Atombomben mitsamt deutscher Teilhabe demonstrieren; oder wenn Bürger insbesondere auf dem Territorium der DDR die Losung „Kein Aufmarschgebiet gegen Russland“ an Autobahnbrücken montieren. Selbstverständlich gilt hier „Ami go home“ in guter Ernst-Busch-Tradition.
Als aber nach dem Ukraineputsch, der verschärften Einkreisung Russlands, die Losung „Raus aus der NATO – NATO raus aus Deutschland“ unter Friedensbewegten Fuß zu fassen begann, wurde dagegen, außer mit dem Wort „Antiamerikanismus“, mit dem Einwand gekontert: „Falsche Zielsetzung! Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“.
Das klang sehr links, war aber eine objektiv falsche, schematische Anwendung des Satzes. Gewiss ist eine Unterordnung der deutschen Bourgeoisie unter US-Interessen nur im Eigeninteresse ihrer Fraktionen möglich, weil für sie zum Beispiel die Mitgliedschaft in der NATO ein Hebel bleibt, um den eigenen Expansionszielen näher zu kommen und noch dazu deutsche Handelswege freizuräumen. Der andere Hebel sind Eurozone und EU. Deutsche Bourgeoisie und US-Imperialismus trennen!, die NATO loswerden! – das ist durchaus Kampf gegen den Hautfeind im eigenen Land. Der Satz von Liebknecht ist also ein dialektischer Satz; er zielt auf Einheit und Kampf der Gegensätze.
Es gibt nun eine entgegengesetzt falsche Sicht auf diesen Satz, auf die ich gleich komme. Zuvor möchte ich aber, da das Wort Dialektik fiel, ein Zitat von Friedrich Engels bringen – und zwar deshalb, weil Rosa Luxemburg in den Auseinandersetzungen mit den Flügeln ihrer Partei sich oft veranlasst sah, es anzuführen.
„Der Chinakrieg – Eröffnung der weltpolitischen Ära“ (Rosa Luxemburg)
In seiner Polemik gegen einen Oberschwurbler des späten XIX. Jahrhunderts, im Anti-Dühring, schrieb Engels:
„Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andre zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen: seine Rede ist ja, ja, nein, nein, was darüber ist, ist vom Übel. Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht: ein Ding kann ebensowenig es selbst und ein anderes sein. Positiv und negativ schließen einander absolut aus; Ursache und Wirkung stehen in ebenso starrem Gegensatz zueinander.“
Bezogen auf unseren Hauptfeindsatz gibt es nun eine ebenso undialektische Gegenposition zur vorgenannten. Ich nenne sie „die Vasallentheorie“ – also die Annahme quasi totaler Unterordnung deutscher Souveränität, egal welcher Klassen, unter die Allmacht der USA. Auch sie greift gerne bis zum I. Weltkrieg zurück.
Es steht außer Frage, dass es ein altes anglo-amerikanisches Interesse gab und gibt, Deutschland gegen Russland in Stellung zu bringen. Dass das auch für die „angelsächsische“ Förderung des deutschen Faschismus als Speerspitze des Weltimperialismus galt, sei ebenfalls unbestritten, deutlich auch etwa beim „Münchner Abkommen“.
Dadurch werden aber die katastrophischen Weltbeherrschungspläne der deutschen Finanzbourgeoisie nicht zu einem geradlinig durchgezogenen angloamerikanischen „Projekt“. Schon deshalb nicht, weil die gar nichts mehr „durchziehen“ konnten gegen die ruhmreiche Sowjetunion, welche USA und Großbritannien in die Antihitlerkoalition zwang.
Heute sind die nichtimperialistischen Gegenkräfte im weltpolitischen Hauptwiderspruch ebenfalls auszumachen: Es ist die wachsende Kooperation zwischen Russland und China, die den unterdrückten Völkern und Klassen, sei es auch noch so gering erscheinende, Spielräume schafft.
Aber auch die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zwischen deutschen und US-amerikanischen Monopolkapitalisten können keineswegs als schiere Unterordnung unter „das Imperium“ beschrieben werden, zumal die BRD über die neokolonialen Unterwerfungsinstrumente der EU verfügt. Die Theorie des eingleisigen Vasallentums gegenüber den noch-hegemonialen USA ist im Extrem eine von den materiellen Grundlagen abgelöste Allmachtsvorstellung.
Wir haben nun in den letzten Monaten erlebt, dass diese „Theorie“ seit Corona eine Wandlung ins Irrationale durchmachen konnte. Ihr alle kennt die Tiraden, dass „seit Wuhan“ quasi im vorausgeplanten Handstreich eine „Weltregierung“ bestellt worden sei, die nahezu 200 Staaten, deren nationale Corona-Strategien übrigens ungleichzeitig und ungleichförmig sind, dazu gebracht habe, ihr Maßnahmen-Regime in absolutem Gleichklang und vermeintlichem Interessensausgleich zur Unterdrückung der Weltbevölkerung zu takten; nicht nur „totalitär“ sei diese Weltregierung, sondern es sei ein „globaler Hyper-Faschismus“, ein „weltweiter Virenfaschismus“ und dergleichen mehr.
Nun dient tatsächlich Corona den Hauptimperialisten zur Verschleierung der übergreifenden verheerenden ökonomisch-politischen Krise. Die Fortschreibung dieser neu aufgewärmten Totalitarismusdoktrin ist nun aber: plötzlich soll die „totalitäre Weltregierung“ eigentlich eine amerikanisch-chinesische Firma sein.
Die real sich zuspitzende Konfrontation gegen China und die anderen spricht natürlich eine andere Sprache. Tatsächlich ist das Metaphysik, weil das Wirken supranationaler Institutionen hier ebenso verabsolutiert wird wie die Staaten gegen ihre Klassengrundlagen verabsolutiert werden.
Das begann übrigens „von links“ mit den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg, wo bereits gegen Putin, Xi Jing Ping und die Chefs der BRICS-Staaten, natürlich auch gegen Trump, so protestiert wurde, als seien sie die Repräsentanten einer imperialistischen Weltregierung. Plötzlich war da vom Hauptfeind im eigenen Land keine Rede mehr. Zur Freude der Merkelregierung und der NATO.
Inzwischen reicht es aber aus, diesmal unter anderer Hausnummer, dass China der WHO Geld überweist oder Delegierte in Pandemieübungen schickt, oder einen harten aber kurzen Lockdown macht, und schon wird im Kaffeesatz gelesen, dass eigentlich China sogar der „Vorreiter“ und Taktgeber dieser Weltunterdrückungsmaschinerie sein solle. Während sogar ein Henry Kissinger inzwischen wieder von Systemkonkurrenz spricht, wird hier also nicht nur die „Totalitarismustheorie“, sondern auch die eingemottete „Konvergenztheorie“ wieder hervorgeholt.
Die Merkelregierung und die NATO schlagen sich einmal mehr auf die Schenkel: Es soll ein Keil zwischen Russland und China – und uns! – getrieben werden, indem der antichinesische Feindbildaufbau nun unter etwas anderen, nämlich „coronarebellischen“ Vorzeichen übernommen wird. Zweitens ist dies eine schleichende Abkehr um 180 Grad vom Kampf um eine multipolare Weltordnung, der bis 2019 doch weitgehend Konsens in der Friedensbewegung war.
Schon 1900 hat Rosa Luxemburg ihre Partei aufgerüttelt zur Massenagitation gegen jede antichinesische Politik und Demagogie. Sie sagte angesichts des Chinakrieges:
„Der chinesische Krieg ist das erste Ereignis der weltpolitischen Ära, in das alle Kulturstaaten verwickelt sind, und dieser erste Vorstoß der internationalen Reaktion, der Heiligen Allianz, hätte sofort durch einen Protest der vereinigten Arbeiterparteien Europas beantwortet werden müssen.“
Wir sollten das heute ins Auge fassen, bevor es zu spät sein könnte. Und: Jahre bevor die SPD die Kriegskredite unterzeichnete und in das antirussische Hurrah einstimmte, hat Rosa Luxemburg wieder und wieder ihre Partei aufgerüttelt gegen jede Versuchung zu einer antirussischen Politik. Die, gegen die sie da redete, waren zum Teil jene Parteigenossen, die 1919 ihre und Liebknechts Ermordung verantworteten.
Bleibt unbeirrbar!
Ich habe versucht, zwei Fehler zu beschreiben. Meines Erachtens hilft nur die Entwicklung eines nationalen Krisenprogramms, um aus beiden herauszukommen. Entwickeln wir also unsere Losungen unbeirrt aus dem weltpolitischen Hauptwiderspruch zwischen angreifenden Imperialisten und den Kräften, die sich deren Diktat nicht unterwerfen. Erlernen wir, im vollen dialektischen Sinne des Wortes, unsere Abwehrkämpfe in dieser Krise auch wieder gezielt gegen die Hauptfeinde im eigenen Land zu richten.
Die geplünderten Völker im Gefängnis von Eurozone und EU werden es uns danken. Würden wir diese Grundlinie verlassen, würden unsere Aufrufe, Mahnwachen und Demonstrationen, um schließlich Goethe doch noch in sein Recht zu setzen, nicht zu einer „Synthese“ führen, die die Massen in ihren konkreten Interessen berührt und ergreift, sondern zu einer bloßen Aggregation, einem beziehungslosen Nebeneinander von Sprüchen, Parolen und abstrakten Utopien. Und damit würden sie der Spaltung und Provokation von innen und außen wehrlos ausgeliefert.
In diesem Sinne, mit Karl und Rosa:
Frieden und Kooperation mit Russland UND China!
Kein Aufmarschgebiet gegen Russland!
Raus aus der NATO – NATO raus!
Nein zur EU!
Trotz alledem und jetzt erst recht:
Hoch die internationale Solidarität!
Klaus Linder ist Vorsitzender des Landesverbandes Berlin des Deutschen Freidenker-Verbandes
Bildergalerie
Fotos: Bruno Jeup
Eine kurze Video-Dokumentation von Frank Kriester inklusive der Redebeiträge gibt es hier:
Beitragsbild oben: Foto von Bruno Jeup