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Zur Problematik von „Coronaprotesten“ und „Gegenprotesten“

von Liane Kilinc

Viele von uns betrachten die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen mit Unbehagen. Letztes Wochenende wurde in Leipzig auf der Querdenker-Demonstration ein Transparent getragen, auf dem geschrieben stand:

„Das bösartigste Virus auf der Welt ist die Kommunistische Partei Chinas“.

Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir alle haben die immer wiederkehrenden Vorwürfe im Ohr, die Grundrechtseinschränkungen, die durch die Pandemie begründet werden, seien ‚DDR 2.0‘, während gleichzeitig das Grundgesetz in den Himmel gehoben wird als sei es tatsächlich die beste aller deutschen Verfassungen. Maskenzwang ist Faschismus oder Stasi, egal, beides gleich böse…

Welch ein Durcheinander in den Köpfen, man weiß gar nicht, an welcher Stelle man anfassen kann, um diesen Knoten zu entwirren.

Und auf der anderen Seite? Da ist die Rede von Coronaleugnern und es fällt das vertraute ‚rechtsoffen‘. Und es denke keiner, da sei der Verstand klarer.

Wie kann es sein, dass Menschen auf die Straße gehen und erklären, sie glaubten nicht, was über die Pandemie in den Medien steht, aber dennoch unverbrüchlich glauben, was dieselben Medien, die selbe Regierung über die DDR erzählen?

Kann man wirklich die eine Erzählung so grundsätzlich in Frage stellen und die andere unüberdacht lassen? Und wie kann es sein, dass irgendwie in dem Ganzen die wirklichen, die sozialen Fragen gar nicht benannt werden? Weder von den sogenannten Leugnern, die sich am Grundgesetz festgebissen haben, noch von jenen, die meinen, der Regierung die Stange halten zu müssen, auch wenn viel für die Konzerne und wenig für die Menschen getan wird?

Es ist, als gäbe es gar keine Sprache mehr für solche Fragen. Wir sind es ja gewohnt, dass viele schon beim Wort ‚Klasse‘ die Augen aufreißen, als stünde der Leibhaftige vor ihnen. Aber seit der Annektion wurden Schritt für Schritt weitere Begriffe ersetzt oder unmöglich gemacht. Wer von sozialer Gerechtigkeit spricht, fördert den Sozialneid; wer benachteiligt wird, ist jetzt sozial schwach, wer seine Arbeitskraft nicht mehr verkaufen kann, dem fehlt die Eigeninitiative – ja, selbst ganz gewöhnliche sozialdemokratische Politik, wie sie die BRD in den 70ern kannte, ist mit dieser Sprache nicht einmal mehr einzufordern. Ganz zu schweigen davon, aus objektiven Klasseninteressen wieder subjektive werden zu lassen. Im Gegenteil; während allerorts Stellen gestrichen werden, vermeintlich wegen Corona, kündigt die Gewerkschaft verdi an, die Zusammenarbeit mit Fridays for Future zu verstärken. Der ganze DGB konnte sich nicht einmal dazu aufraffen, angesichts der Einkommensverluste vieler Arbeiterinnen und Arbeiter eine Verschiebung der CO²-Steuer zu fordern.

Wie also sollen Menschen, denen plötzlich – vermeintlich durch Corona – der Boden unter den Füßen wegrutscht, das denken und aussprechen können, was ihnen tatsächlich angetan wird? Wir wissen, dass die Künstler, die sich heute verzweifelt fragen, wovon sie denn leben sollen, weil es keine Auftritte mehr gibt, diese Probleme in der DDR nicht gehabt hätten. Weil ihr Einkommen nicht von den Auftritten abhing. Künstler mussten nicht auf einem Markt verkaufbar sein.

Sie hatten ein festes Einkommen. Wir wissen das. Aber die heutigen Künstler wissen das nicht. Das viele Menschen in diesem Land keine Reserven haben und schon nach wenigen Wochen ihre Existenz gefährdet ist, das ist ein durch die herrschende Politik willentlich erzeugter Zustand. Wir alle kennen die Stichworte auf der Strecke dorthin: Hartz 4, Leiharbeit, Werkverträge, Scheinselbständigkeit, und auf der anderen Seite Körperschaftsteuersenkungen und Cum-Ex-Betrug…

Die Vermögensstatistik besagte schon vor Jahren, dass die Hälfte der deutschen Bevölkerung so gut wie kein Vermögen besitzt. Das tut im normalen Alltag nicht weh, aber wenn plötzlich etwas wie Corona passiert, dann öffnet sich schnell ein unerwarteter Abgrund. Und der Blick fällt natürlich zuerst auf den Anlass, den Lockdown, und nicht auf den Grund.

Auch andere Dinge wirken mit. Seit vielen Jahren steigt die Zahl der Depressionen; eine normale Reaktion auf den beständigen Druck, zu dem nicht nur Konkurrenz in der Arbeit, sondern eben auch die Angst vor Armut, Krankheit, Wohnungslosigkeit gehören, und in diesem Jahr, das stand vor wenigen Tagen erst in Berlin in der Zeitung zu lesen, ist die Selbstmordrate enorm in die Höhe geschnellt. Auch das kein Wunder, wenn immer mehr ’soziale Distanz‘ eingefordert wird, in einer Gesellschaft, die im Normalzustand schon keine Heimat bietet.

Das alles beengt, und auf das Gefühl der Enge reagieren Menschen blindlings mit dem Wunsch nach Freiheit. Und weil ihnen ständig das Geklingel von ‚Freiheit und Democracy‘ im Ohr liegt, dieses groß tönende Leerwort ohne jede Bestimmung, wovon, wozu, wodurch und für wen, greifen sie in einem hilflosen Impuls nach den Worthülsen, die ihnen aus der täglichen Propaganda am vertrautesten sind. Es erinnert ein wenig an die Bauernkriege, als für die Forderung nach einer besseren Gesellschaft keine andere Sprache zur Verfügung stand als die der Religion.

Man könnte versucht sein, daran anzuknüpfen, wenn nur, um dagegen zu argumentieren. Aber das wäre keine Lösung. Wir müssen unsere Sprache behalten, weil wir noch über die sozialen Interessen sprechen können, über die Widersprüche, die Nöte, die Notwendigkeiten; und jetzt, da die Mehrheit dieser Gesellschaft erst wieder lernen muss, vom Sozialen zu sprechen, kann sie das auch gleich mit den richtigen Worten wieder erlernen, von Klassen, deren Interessen und deren Kämpfen, nicht mit der alten sozialdemokratischen Sklavensprache.

Aber es ist nicht nur Sprachlosigkeit, die einen tatsächlich sozial begründeten Protest auf bizarre antikommunistische Abwege führt. Es ist auch nicht nur die Abwesenheit einer klar führenden politischen Kraft, die die wirklichen Probleme aufgreift und benennt. Es ist auch nicht nur die tiefe Zersetzung aller oppositionellen Organisationen, nicht nur Folge der Bemühungen, jede Form von Protest irgendwie wieder einzufangen und ins Lager der Kriegstreiber zurückzuführen.

Um zu verstehen, was hier passiert, müssen wir den Blick etwas weiten, über Corona hinaus und auch über die Grenzen unseres Landes und selbst unserer Gegenwart. Denn eines ist klar – wir befinden uns an einem Wendepunkt in der Geschichte.

Im März des vergangenen Jahres sagte der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Lateinamerika gehöre niemandem und sei niemandes Hinterhof. Diesen Satz hat die bundesdeutsche Presse überhört, obwohl ihr die Ohren hätten klingeln müssen. Denn da hat ein Chinese den US-Amerikanern und den Europäern das Recht abgesprochen, über Regierungen in Lateinamerika zu entscheiden, einfach so, fast beiläufig. Als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Er hat nicht gesagt, ‚es wird niemand gehören‘; er hat in der Gegenwart gesprochen, er hat etwas festgestellt. Das US-amerikanische Imperium ist vorüber.

Das ist die eine Ebene der tiefen gesellschaftlichen Krise; die Ökonomie ist die andere. Unter dem Vorzeichen von Corona wurden ein weiteres Mal die Milliardäre auf Kosten des gemeinen Volks gemästet. Nicht nur mit seltsamen Verträgen über unerprobte Impfstoffe mit unbekannten Nebenwirkungen, denen man noch den Markt sichert, indem man mit Hilfe der Räuberpistole von Nawalny die russische Konkurrenz verbietet. Die herrschende Klasse bedient sich ungehemmt; sie plündert bereits diejenigen, die sich zur Mittelschicht zählen, die Arbeiteraristokratie und das Kleinbürgertum, aber selbst dieser Raubzug löst die ökonomischen Probleme nicht, die seit der Finanzkrise auf dem Tisch liegen. Es gibt innerhalb dieses Systems keine Vorstellung von Zukunft mehr.

Überall brechen neue Widersprüche auf, wie die Risse, die ausgedörrten Boden durchziehen. Der französische Präsident Macron, der seit über einem Jahr nur mühsam die Nase über der Flut der sozialen Proteste der Gelbwesten halten kann, liefert sich, weitgehend unbemerkt, in Libyen Stellvertretergefechte mit Merkel, und schickt französische Kriegsschiffe nach Griechenland, gegen die von Merkel gestützten Türken, in einer Auseinandersetzung um Gasfelder vor der türkischen Küste… In den USA wird tatsächlich, ernsthaft, von Bürgerkrieg gesprochen… Wo ist noch fester Grund? In den Kernländern des Westens ist viel ins Rutschen geraten, und es ist noch nicht absehbar, wie viel. Corona, das ist da nur das Sahnehäubchen, der berühmte Tropfen ins volle Fass.

Tucholsky schrieb einmal, das Volk verstehe das meiste falsch, aber es fühle das meiste richtig. Das Gefühl umfasst den Zorn über eine Regierung, die nichts als der blanke Knecht der Konzerne ist, es umfasst die Angst vor der ungewissen Zukunft, es umfasst die Wut über die Leere, die die Stelle des Sozialen eingenommen hat. Auch wenn die Epidemie echt ist und nicht vorgetäuscht, mit dieser Epidemie wird gespielt, sie wird nicht so bekämpft, dass die Menschen bestmöglich geschützt sind, sie wird nicht so bekämpft, wie es einem Industrieland wie Deutschland möglich sein müsste. Man kann den Virus ausrotten, nicht nur China hat das vorgemacht; dafür müsste man zwei, drei Wochen lang alles stilllegen, auch die Produktion, und sich um alle Menschen kümmern, die Versorgung brauchen, und währenddessen testen, testen, testen. Das geht. Hier wird in Quarantäne geschickt, und niemand fragt, ob die Betroffenen etwas zu essen haben oder nicht; Kinder sollen im Winter mit Masken Wochen, wenn nicht Monate in Klassenzimmern mit offenen Fenstern sitzen, in denen Heizung abgedreht ist, weil das ja Verschwendung wäre… Wieder fehlt an allen Ecken und Enden die einfachste Schutzausrüstung im Gesundheitswesen…

aber die Fabriken arbeiten, der öffentliche Nahverkehr läuft, und die Ankündigung, das würde so noch lange bleiben, fand schon statt. Die Epidemie wird nicht, wie es sein sollte, in Zusammenarbeit mit allen anderen betroffenen Ländern bekämpft, sondern wird genutzt, um die Konkurrenz weiter zu verschärfen, auch mit den Nachbarländern. Was an Handwerk, Kleingewerbe, Kunst dabei zugrunde geht, ist Kollateralschaden. Das Volk fühlt das.

Aber eines sollte man nicht vergessen – selbst in den großen Umbrüchen zeigt sich die wahre Gestalt des Widerspruchs erst mit der Zeit. Gerade dann, wenn große Mengen Menschen ohne politische Vorgeschichte in Bewegung geraten, sind die Töne anfangs seltsam und etwas ganz Anderes, als wir uns wünschen oder erwarten würden.

Die ersten Schritte werden noch von guten Untertanen gegangen. Sie betonen sogar, wie gute Untertanen sie sind, weil sie eben deshalb auch eine gute Herrschaft verdient haben. Dieses Muster findet sich in den Bauernkriegen ebenso wie im Russland des Jahres 1905, dessen erste große Demonstration ein Bittgang war.

Bei aller Großspurigkeit von ‚Widerstand‘ sind die Demonstrationen von Querdenken genau das – die Bittgänge guter Untertanen. Die sich gerade durch diese antikommunistischen Parolen als gute Untertanen bekennen, selbst die Bandbreite ihrer Forderungen auf das Minimum beschränken, und erschüttert sind, wenn selbst diesem Minimum noch die kalte Schulter gezeigt wird. Sie täuschen sich über die Wirksamkeit einer geäußerten Meinung, ja, sie werden darin noch bestärkt, weil man schon auf diese Meinung einschlägt; und dennoch, sie werden erkennen müssen, dass dieser Weg nirgendwo hin führt. Dann haben sie zwei Möglichkeiten – sich brav wieder nach Hause zu trollen, um selbst unter der schlechten Herrschaft brave Untertanen zu bleiben, oder aber: andere Fragen zu stellen, die wirklichen Interessen entdecken, zu begreifen, dass alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen ist, auch die unsere, heute und hier.

Dann sollten wir unsere Antworten parat haben. Sobald die Fragen weiter gestellt werden, und sei es nur bis zu dem Punkt des ‚ihr da oben- wir da unten‘, verändert sich auch die Bedeutung des Satzes auf jenem Transparent, das ich eingangs zitiert habe. Denn der gute Untertan bleibt an die Sicht der Herrschenden gebunden, Herrschende, für die die KP Chinas tatsächlich der bösartigste Virus der Welt ist. Was für sie schlecht ist, das wird begriffen werden müssen, kann für uns gut sein, und die einzig gute Herrschaft ist die, die das Volk über sich selbst ausübt. Das zu begreifen, dafür darf man tatsächlich den Blick nach China richten.

Liane Kilinc, Vorsitzende der Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V., Mitglied im Berliner Freidenker-Verband

 

Dieser Beitrag wurde am Montag, 16. November 2020 um 16:13 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Allgemein abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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