Am 27. November wurde dem Bundesfinanzminister, Olaf Scholz, und dem Berliner Finanzsenator, Dr. Matthias Kollatz, das folgende Protestschreiben des Deutschen Freidenker-Verbandes durch seinen Vorsitzenden Klaus Hartmann zugestellt (Original im Anhang dieser email):
Bundesministerium für Finanzen
Herrn Olaf Scholz
Wilhelmstraße 97
10117 Berlin
Poststelle@bmf.bund.de
Senatsverwaltung für Finanzen
Herrn Dr. Matthias Kollatz
Klosterstraße 59
10179 Berlin
pressestelle@senfin.verwalt-berlin.de
27.11.2019
Gemeinnützigkeit der VVN/BdA
Sehr geehrter Herr Bundesminister, sehr geehrter Herr Senator,
wir protestieren gegen den skandalösen Entzug der Anerkennung der Gemeinnützigkeit für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.
Wir betrachten diesen Willkürakt auch als Angriff auf unsere Organisation. Die Freidenker wurden nach dem Machtantritt der Faschisten in Deutschland gnadenlos verfolgt, der Vorsitzende Max Sievers und der Geschäftsführer Hermann Graul im Februar 1933 nach dem Reichstagsbrand verhaftet, die Geschäftsstelle im März durch die SS verwüstet, das Vermögen geraubt, der Verband verboten und der Vorsitzende im August 1933 ausgebürgert. Max Sievers wurde 1943 in Belgien von der Gestapo verhaftet und nach Berlin verschleppt, in einem Hochverratsprozess von Freislers Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und im Januar 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden mit dem Fallbeil ermordet. Er ist in einem Ehrengrab des Landes Berlin auf dem Friedhof Wedding bestattet.
Die Aberkennung der Gemeinnützigkeit durch die Berliner Finanzverwaltung kann nur als Signal zur Ermutigung einer weiteren Rechtsentwicklung gewertet werden und wird von interessierter Seite auch zweifellos genauso verstanden. Der proklamierte vermeintliche „Kampf gegen rechts“ scheint offenbar lediglich für Sonntagsreden oder als Schaufensterdekoration zu taugen, während in der Realität des Alltags den Überlebenden des faschistischen Verbrecherregimes die Aufklärungsarbeit erschwert wird.
Angesichts dieser Entscheidung erinnern wir daran, dass die BRD anlässlich ihrer Aufnahme in die Vereinten Nationen 1970 hinsichtlich Art. 139 GG erklärt hat: „Das ausdrückliche Verbot von neonazistischen Organisationen und die Tatsache, daß man nazistischen Tendenzen vorbeugt, folgen gleichermaßen aus dem Grundgesetz, und zwar in der Richtung, daß die von den Alliierten und deutschen Behörden zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus in Kraft gesetzte Gesetzgebung auch weiterhin in Kraft ist“.
Hingegen scheint die politische Praxis der Exekutive eher vom direkten Gegenteil gekennzeichnet zu sein: Nazi-Organisationen werden nicht nur nicht aufgelöst, sondern können sich personeller Unterstützung durch den Geheimdienst erfreuen, eben jenes Geheimdienstes, der nun „im Gegenzug“ der Organisation von Verfolgten des Naziregimes „Extremismus“ bescheinigt.
Die Berliner Finanzverwaltung hat sich dabei auf die „Expertise“ der Geheimdienstfiliale des Bundeslandes Bayern gestützt, das der Witwe des Volksgerichtshof-Blutrichters Freisler nach dessen Tod bei einem alliierten Bombenangriff einen monatlichen „Schadensausgleich“ zahlte, weil der im Überlebensfall eine Nachkriegskarriere „als Rechtsanwalt oder Beamter des höheren Dienstes“ gemacht hätte, und nach dieser Überlebenstheorie ein Witwenanspruch auf quasi entgangene Einkommens- oder Rentenanteile konstruiert wurde.
Die vom damaligen Bundesjustizminister Kinkel 1991 angeordnete „Delegitimierung des SED-Systems mit juristischen Mitteln“ stützte sich an erster Stelle auf den Vorwurf, dass es „bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung … hergeleitet hat“, und es lediglich einen „verordneten Antifaschismus“ gegeben habe. Will sich Deutschland im Jahr 2019 rühmen, dass es den Anti-Antifaschismus verordnet?
Bis zum heutigen Tage zeigt sich Deutschland erkenntlich, indem es NS-Kollaborateuren und Veteranen der Waffen-SS, ob in den Niederlanden oder in Lettland, Sonderrenten für „einen militärähnlichen Dienst“ überweist, während Kriegsgefangene des faschistischen Deutschland auf entsprechende Zahlungen vergeblich warten, und Zwangsarbeiter mit einer „symbolischen Anerkennung“ abgefertigt wurden.
Eine derartige politische Grundhaltung scheint auch auf außenpolitischem Gebiet nicht ohne Folgen zu bleiben. So beteiligte sich die Bundeswehr im November am NATO-Manöver „Eiserner Wolf 2019 – II“, benannt nach dem bewaffneten faschistischen Kampfbund, der 1927 in Litauen gegründet wurde. Und für 2020 wird das NATO-Kriegsmanöver „Defender 2020“ angekündigt, mit dem die Verlegung von über 37.000 Soldaten allein aus den USA nebst Panzern und schwerem militärischen Gerät an die russische Grenze trainiert werden soll – pünktlich zum 75. Jahrestag der Befreiung Europas von Faschismus und Krieg.
Der Deutsche Freidenker-Verband hält die hier skizzierte politische Praxis für nicht vereinbar mit dem antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes. Wir erwarten die umgehende Rücknahme der Entscheidung, der VVN-BdA die Anerkennung der Gemeinnützigkeit zu verweigern. Unsere ausländischen Freunde und Partner werden die diesbezügliche Entwicklung mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
Hochachtungsvoll
Klaus Hartmann, Bundesvorsitzender
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