Den 100. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution verstehen wir Berliner Freidenker als geistige Herausforderung.
Das tiefere Begreifen der Geschichte gibt uns Wissen, Optimismus und neue Kraft in den Kämpfen unserer Zeit.
Im Zentrum der Oktoberrevolution und der ersten Jahre der Sowjetmacht stand Lenin. Wir wollen Lenin wieder und tiefer und auch neu zu entdecken. Den Anfang haben wir mit einer Freidenkergesprächsrunde gemacht, von der es ein Video gibt –hier. Danach veröffentlichten wir einen Beitrag von Dr. Hermann Wollner – hier.
Heute setzen wir unsere Reihe „Lenin kennen lernen“ fort mit dem ersten geringfügig gekürzten (und umformatierten) Teil eines Vortragstextes des Historikers Prof. Dr. Heinz Karl aus Anlass des 90. Todestages von W. I. Lenin.
… Lenins Erben, zu denen ja auch wir uns zählen, kranken an dem Unglück, dass sie wiederholt und in entscheidenden Situationen es nicht vermochten, im Denken und Handeln Lenins Maßstäben gerecht zu werden.
Dabei wurde Lenins Genialität – in Theorie und Praxis -, die ihn als – bis heute – Einzigen an die Seite seiner großen Vorbilder Karl Marx und Friedrich Engels stellt, schon von seinen Zeitgenossen und Mitstreitern klar erkannt und gewürdigt. Clara Zetkin – eine der dazu Berufensten – hob wenige Tage nach seinem Ableben in der „Prawda“ das ihn besonders Auszeichnende hervor: „Lenin war keineswegs in dem Sinne der genialste Schüler von Marx, daß er marxistische Formeln nachbetete, sondern im besten Sinne des Wortes, im Sinne der progressiven und schöpferischen Entwicklung der Marxschen Ideen. Lenin war der größte Marxist der Tat.“(1) Und an anderer Stelle ergänzend: „Lenin war nie der Gefangene seiner Formeln … und er beugte nie die Kräfte des lebendigen, schöpferischen Lebens unter die Macht von toten Buchstaben.“ (2)
Auf der Gedenksitzung des II. Sowjetkongresses der UdSSR am 26. Januar 1924 betonte sie eine weitere entscheidende Seite seiner Persönlichkeit: „Ein Riese, ragte er über die Knirpse jener bürgerlichen wie reformistischen ‚Realpolitik‘ empor, für die der kleine Tageserfolg der angebetete Götze ist und der Verrat von Grundsätzen der Anfang, das A und O aller Politik. Lenin hat in vorbildlicher Weise gezeigt, wie man Politik macht, ohne aufzuhören, Kommunist zu sein, wie man sich dadurch täglich mit den Massen verbindet und mehr macht als Politik, nämlich Geschichte. Lenin war bei all seinem Glauben an das Endziel der größte, der genialste Realpolitiker aller Zeiten und Länder.“ (3) Wie wahr – und wie aktuell!
Und der führende englische Kommunist Theodor Rothstein schrieb 1924: „Aber worin Lenin absolut selbständig ist, worin er durchaus keine Vorläufer hat, und worin also die Originalität seines Denkens und die Gewalt seines Willens in der intensivsten Weise zum Ausdruck kamen, das ist die Schöpfung und die Idee des Sowjetstaates.“ (4)
1. Lenin über die sozialistische Gesellschaft, insbesondere den sozialistischen Staat
Lenins bedeutendste Leistung als Politiker und Theoretiker bestand wohl darin, dass er – und darauf heben Clara Zetkins und Theodor Rothsteins würdigende Worte vor allem ab – führend voranging bei der Errichtung der sozialistischen Macht und den tastenden Versuchen, den konkreten Weg zu sozialistischen Umgestaltungen zu finden, dabei ständig die praktischen Erfahrungen verallgemeinernd, die Fehler und Misserfolge offen und produktiv kritisierend. In seinem im August/September 1917, in der Illegalität nach der Niederschlagung der Juli-Demonstration, verfassten Werk „Staat und Revolution“ umriss er – anknüpfend an Marx‘ Analyse der Pariser Kommune – ein grundlegendes methodologisches Prinzip zur Klärung der Frage, was denn konkret an die Stelle der reaktionären bürgerlichen Klassenherrschaft, ihrer Strukturen und ihres Apparates treten solle: „Ohne sich auf Utopien einzulassen, erwartete Marx von den Erfahrungen der Massenbewegung eine Antwort auf die Frage, welche konkreten Formen diese Organisation des Proletariats als herrschende Klasse annehmen wird …“ (Lenin, Werke Band 25, S.430) Nicht „Visionen“ und „Utopien“, ideologiegeprägte „Erzählungen“ und abstrakte Gedankenspiele über „Transformationen“ waren Lenins (wie Marx‘) Ansatz, sondern die historisch-konkrete gesellschaftliche Realität, das Agieren der Massen und deren reale Erfahrungen. Diesem Prinzip folgte Lenin auch an allen weiteren Wendepunkten der gesellschaftlichen Entwicklung.
Der traditionelle bürgerliche Parlamentarismus könne die notwendigen grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen nicht bewirken, nicht über den Kapitalismus hinaus führen, denn „die eigentlichen ‚Staatsgeschäfte werden hinter den Kulissen abgewickelt und von den Departements, Kanzleien und Stäben verrichtet. In den Parlamenten wird nur geschwatzt, speziell zu dem Zweck, das ‚niedere Volk‘ hinters Licht zu führen.“ (Ebenda S. 436) Doch warnt Lenin zugleich davor, sich in anarchistische Sackgassen zu verlaufen: „Ohne Vertretungskörperschaften können wir uns eine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratie nicht …“ (Ebenda S. 437)
Die konkrete Antwort 1917 gaben eben die „Erfahrungen der Massenbewegung“, die Sowjets, die Arbeiter- und Soldatenräte, und dies nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland und anderen Ländern.
Bereits in „Staat und Revolution“ traf Lenin die eminent wichtige Einschätzung, dass dieser neue proletarische, sozialistische Staat „bereits ein Übergangsstaat, kein Staat im eigentlichen Sinne mehr“ (Ebenda, S 477) sei. Er knüpfte dabei an die Feststellung von Friedrich Engels an, dass die Pariser Kommune „schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war“ (Ebenda, S. 453/454), weshalb Engels es für besser hielt, statt Staat lieber von „Gemeinwesen“ zu sprechen. Für besonders wichtige Aspekte dieses neuen, sozialistischen Staates hielt Lenin zum einen die breite Einbeziehung der werktätigen Bürger in seine Tätigkeit, zum anderen die Überwindung der überkommenen bürokratischen Strukturen und des Bürokratismus.
Es war eines der schwerwiegendsten Defizite der Entwicklung der Sowjetgesellschaft, dass es – aus objektiven und subjektiven Gründen – nicht gelang, diesen prinzipiellen, lebenswichtigen Forderungen Lenins gerecht zu werden, dass dieses Defizit mit den Jahren und Jahrzehnten nach Lenins Tod nicht verringert, sondern vergrößert wurde und entscheidend zum Niedergang und Zusammenbruch der Sowjetordnung beitrug. In ihrem bereits zitierten Prawda-Artikel vom 24. Januar 1924 unterstrich Clara Zetkin die objektive historische Problematik und zugleich die entscheidende Bedeutung der klaren, realistischen Sicht Lenins auf dieses Dilemma: „Mehr als irgend jemand sah und verstand er die ungeheure historische Tragik der proletarischen Revolution in Rußland, die im Widerspruch zwischen dem leidenschaftlichen revolutionären Willen zum Kommunismus und den zurückgebliebenen objektiven Bedingungen besteht.“ (10)
Lenin hielt den Anfang der 20er Jahre existierenden sowjetischen Staatsapparat für unfähig, auf sozialistische Weise zu arbeiten, sozialistische Demokratie zu realisieren. Er kennzeichnete ihn nicht nur als „einen Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen“ (Lenin, Werke Band 32, S. 32), sondern stellte fest, dass der Staatsapparat „vom Zarismus übernommen und nur ganz leicht mit Sowjetöl gesalbt“ (Werke Band 36, S. 591) worden sei. 1923 wandte er sich entschieden gegen eine „Konservierung unseres Apparats in derselben geradezu unmöglichen, geradezu unanständigen vorrevolutionären Gestalt, in der er auch heute noch besteht“ (Werke Band 33, S. 470). Aus diesen Gründen hatte Lenin schon in der Gewerkschaftsdiskussion Ende 1920 eingeschätzt, der gegenwärtige Sowjetstaat sei „derart beschaffen, daß das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat sich schützen muß“, dass der „Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat“ (Werke, Band 32, S. 7) notwendig sei.
Lenin führte einen prinzipiellen und angestrengten Kampf gegen diese Zustände, weil ihm klar war, dass es hier um die politischen Potenzen der sozialistischen Macht, um das Verhältnis zwischen der Macht und den Massen – um ein existenzielles Problem der sozialistischen Entwicklung ging. Ein Höhepunkt dieses Kampfes war die sogenannte Gewerkschaftsdiskussion Ende 1920. Sie entsprang daraus, dass sich mit dem Ende des Bürgerkrieges nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die dringende Notwendigkeit ergab, mit den Notlösungen und Zwangsmaßnahmen des sogenannten „Kriegskommunismus“ Schluss zu machen und zu Beziehungen zwischen dem Staat, den verschiedenen Klassen und Schichten, der Wirtschaft, den Bürgern und ihren Organisationen zu kommen, die den sozialistischen Prinzipien und der Sowjetverfassung voll gerecht werden. Das betraf insbesondere auch die Gewerkschaften.
Die Debatte entzündete sich besonders daran, dass Leo Trotzki vorschlug, die Gewerkschaften „durchzurütteln“ und zu „militarisieren“. Als Sache der Gewerkschaften betrachtete er nicht den Schutz der materiellen und geistigen Interessen der Arbeiterklasse (Ebenda S. 6), den „Kampf um bessere Arbeitsbedingungen …, sondern um die Arbeiterklasse zu Produktionszwecken zu organisieren, zu erziehen, zu disziplinieren, zu verteilen …“ (16) Gefragt seien nicht mehr „Gewerkschaften des tradeunionistischen Typus“, sondern „die gewerkschaftlich-produktionelle Organisation der Arbeiterklasse“ (17) nach dem Vorbild der 1919/1920 zeitweilig in Arbeitsarmeen umgewandelten Verbände der Roten Armee (18). Diese Aufgabenstellung wurde verbunden mit bürokratisch-zentralistischen Vorstellungen vom System und den Methoden der Leitung.
Lenin setzte sich mit Trotzkis Konzept prinzipiell auseinander, kritisierte es als „eine Politik des bürokratischen Herumzerrens an den Gewerkschaften“ (Ebenda S. 26). Dem Wesen nach ginge es um „die Methoden des Herangehens an die Massen, der Gewinnung der Massen, der Verbindung mit den Massen“ (Ebenda, S. 5.). Es setzte sich die Leninsche Orientierung durch, „in den Arbeiterorganisationen den Demokratismus (zu) erweitern“ und „dem Kampf gegen den Bürokratismus größte Aufmerksamkeit (zu)zuwenden“ (Ebenda, S. 95).
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(Der Vortrag von Prof. Dr. Heinz Karl ist veröffentlicht im Mitteilungsblatt Mai 2014 der Geschichtskorrespondenz. Dort sind auch alle hier nicht übernommenen Quellenangaben zu finden. Die Quellenangaben zu Werken Lenins haben wir direkt verlinkt, um das Auffinden zu erleichtern.)
« Die Reportage zum Sonntag #52 – aus Datteln – Kundgebung des DGB am 1. Mai »
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