Ich zeige an Wadim Rogowins Werk „Gab es eine Alternative?“.
Wadim Sacharowitsch Rogowin (1937 bis 1998) war ein sowjetisch-russischer Historiker und Soziologe. Sein großes, der Kritik des Stalinismus gewidmetes Werk „Gab es eine Alternative“ untersucht den Zeitraum von 1922 bis 1940 auf insgesamt dreitausend Seiten. Es gliedert sich in die sechs Bände „Trotzkismus“ (1922-1927), „Stalins Kriegskommunismus“ (1928-1933), „Vor dem Großen Terror – Stalins Neo-NÖP“ (1934-1936), „1937 – Jahr des Terrors “ (1937), „Die Partei der Hingerichteten“ (1937-1938) und den weniger geschlossenen Band „Weltrevolution und Weltkrieg“ (1939) über dessen Ausarbeitung der Historiker verstarb. Den geplanten 7. Band „Das Ende ist der Anfang“ (1940) konnte Rogowin, der dem Krebs erlag, nicht mehr schreiben.
Rogowins Werk ist von der Geschichtswissenschaft und mehr noch von den Tageskämpfern der Ideologien weitgehend ignoriert worden. Werner Röhr ist, soweit ich sehe, der einzige ausgewiesene Historiker, der sich explizit geäußert hat. In der „Zeitschrift für marxistische Erneuerung“ Nr. 45 vom März 2001 ist seine Rezension „Der Untergang des Bolschewismus als Voraussetzung des Stalinismus“ zu finden. (Die achtseitige Rezension ist nicht online verfügbar. Ich bin bereit, InteressentInnen einen Scan zu schicken.)
Röhr hebt hervor, dass Rogowins Aufarbeitung der „Großen Säuberung“ der Jahre 1936-1938 in der Sowjetunion, insbesondere der drei grossen Schauprozesse und des Massenterrors, eingebettet ist „in eine gewaltige historische Rekonstruktion der nachrevolutionären Geschichte der Bolschewiki“ und weiter: „Als bisher einziger Historiker dieser Periode bezieht Rogowin den wichtigsten politischen Gegner Stalins in diesen Jahren, Leo Trotzki, systematisch mit ein…“.
Die komplexe, historiografisch-soziologische Forschungsmethode des Autors schlägt sich in einer enormen Beweiskraft seiner Darstellung epochaler Zusammenhänge, Einschätzungen und Schlussfolgerungen nieder. Wir haben es mit einem Meisterwerk der historisch-materialistischen Geschichtsschreibung zu tun, ich möchte behaupten, dem bisher einzigen, das, vor dem Hintergrund der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und diese voraussetzend, die Vernichtung des Bolschewismus und die Durchsetzung des Stalinschen Absolutismus in Begriffe fasst, die marxistisch-wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.
Neben dieser gewaltigen, zentralen Leistung besticht Rogowins Werk durch grundsätzliche Hinweise auf weitere, mit der Zentralerkenntnis verbundene, doch weiterführende Erkenntnislinien. Dazu zähle ich (relativ willkürlich ausgewählt) den Spanischen Bürgerkrieg, die Rolle der Komintern, den Deutsch-Sowjetischen Vertrag von 1939 (einschließlich Geheimprotokoll) aber auch Rogowins Bemerkungen zu dem Stalinismus nach Stalin bis hin zum Untergang der Sowjetunion und bis zur nachsowjetischen Gegenwart (der 90er Jahre).
Nicht zuletzt zähle ich dazu Rogowins detaillierte Auseinandersetzung mit der von Stalin erzwungenen „Sozialfaschismuskonzeption“ und ihrer Rolle im Prozess der Machtübertragung an Hitler und der historischen Niederlage der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung.
Ein Werk, wie dieses, das hundert Fragen beantwortet, wirft tausend neue auf. Das kann nicht überraschen. Es ist kein Werk, das man in wenigen Tagen „durch“ hat. Mich hat es seit Wochen buchstäblich „eingesogen“, und ich weiss, dass ich jetzt, gegen Ende der Lektüre, sofort wieder anfangen werde, noch einmal von vorn zu lesen. Das ist kein Mangel. Die Russischen Revolutionen von 1917 werden bald hundert Jahre alt. Denkwürdige Zeit, die uns, wenn wir es wollen, den Quellen wieder näher bringt. Rogowin kann dabei helfen.
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