Als Bruno Mahlow kürzlich bei den Berliner Freidenkern einen Vortrag über Russland hielt (neudeutsch: „einen hochkarätigen Vortrag“; sicherlich wird bald ein Videomitschnitt zu sehen sein) benutzte er eine mir altvertraute aber lange nicht gehörte Wendung: „Die russische Frage“. Bruno Mahlow erinnerte: „Plötzlich fanden sich 25 Millionen Russen außerhalb Russlands … das Weißbuch der Bundeswehr benennt Russland als Feind, wie den IS … Gehrke stellte auf dem Magdeburger Parteitag der Linken den Antrag, den 75. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion würdig zu begehen … nach dem Untergang der Sowjetunion, diesem „zivilisatorischen Rückschlag für die Menschheit“, gibt es sie wieder, „die russische Frage“.“
In meiner Sozialisation hat „die russische Frage“ frühzeitig eine Rolle gespielt. Als Heranwachsender fand ich die Formulierung interessant und zugleich geheimnisvoll. Ich konnte mir wenig darunter vorstellen. Mit 11, 12, Jahren begann ich Gorkis Romane und Erzählungen zu verschlingen (Mein Vater – Bau-Ingenieuer – war 1951 für gute Arbeit mit einem dicken Sammelband Gorki ausgezeichnet worden. Hier ist dieses Buch aus dem SWA-Verlag abgebildet.) Es war die Zeit der Stalinkult-Kriegsfilme. „Der Fall von Berlin“ riss mich mit, und es störte mich, dass mein Vater meine Begeisterung nicht teilte. (Mein erster, schwer beeindruckender Film war jedoch kein russischer –„Die letzte Etappe“ von Wanda Jakubowska (1948). Der ging in die persönlichen Grunderfahrungen ein.)
In Gesprächen geisterte ein Film aus noch früherer Zeit herum – „Die russische Frage“ nach Konstantin Simonow. Bereits 1947 hatte es eine gleichnamige Theateraufführung in Berlin unter der Intendanz Wolfgang Langhoffs gegeben. Der „Spiegel“ reagierte missvergnügt. In einer ausführlichen Besprechung „Der Fall Harry Smith“ vom 10.5.1947 haben bereits alle die Schreiber des Tages in den ideologischen Schützengräben Posten gefasst. 1947/48 „die russische Frage“ zu stellen, verletzte offensichtlich bereits ein Sakrileg. Das war knapp und speziell den Deutschen fasslich: Ami gut – Russe schlecht.
Wann waren die historischen Anfänge? Dämonisierung des „asiatischen Ostens“ bereits seit dem 15. Jahrhundert. Karl Marx spricht 1853 von der russischen Frage, doch, wie mir scheint, eher zufällig und in untergeordneter Bedeutung. Der alte Bebel erklärte bekanntlich noch 1907 seine Bereitschaft, im Rock des Kaisers gegen den Zaren, also den russischen Imperialismus, zu kämpfen. Den Sozialdemokraten blieb 1914 der Rock des Kaisers. Und vom Zarenreich im Osten blieb viel Weizen, viel Öl und viel, viel verlockender Lebensraum. Eine besondere russische Frage aber wurde damals meines Wissens im Westen noch nicht formuliert. Wohl aber von den Russen selbst. Einer fragte bereits 1863 „Was tun?“, und ein Zweiter stellte 1902 mit großem Nachdruck dieselbe Frage…
Langsam wird es verwirrend: Die Russen stellen sich selbst die „russische Frage“ und das offensichtlich wiederholt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt stellt sich im Westen (oder in der ganzen Welt?) jedenfalls aber in Deutschland die „russische Frage“. Schließlich bekenne ich, dass es für mich persönlich eine „russische Frage“ gibt. Was mag das Verbindende dieser verschiedenen Blickwinkel sein? Darüber nachgrübelnd stoße ich darauf, dass es die Revolution ist. Nein, nicht die Revolution allein, sondern ein Dreieck mit den Seiten: Revolution – Frieden – Faschismus. Und es stellt sich der bedrückende Gedanke ein, dass das deutsche Volk noch nie in einer Revolution oder wenigstens in einem großen Volkskrieg gesiegt hat.
Es scheint, dass die russische Frage uns seit etwa 100 Jahren verfolgt. Steht sie etwa heute wieder im Raum? Der Elefant, der im Mediennebel verschwindet? Wir sollten die Augen offen lassen, und wir sollten nicht aus dem Raum flüchten.
Das da ist wohl keine gute Antwort:
Zum „Die russische Frage“ Teil 2 hier.
Zum „Die russische Frage“ Teil 3 hier.
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