Eine „Berliner Runde“ zum (Un)Recht in zwei deutschen Staaten
„Was erwartet der Bürger von einem Rechtsstaat? Doch wohl, dass er sein Recht bekommt.“ Mit einer launigen Kurzdefinition führt der Redner in das Thema ein, und ein allgemeines Lachen im Saal zeigt ihm, dass seine Ironie verstanden wurde. Das ist kaum überraschend, denn der Redner ist Erich Buchholz, Professor Dr. jur. habil. und einer der angesehensten Juristen der DDR, und sein Publikum sind die Berliner Freidenker, die ihn am 13. März zu ihrer „Berliner Runde“ zum Thema „Rechtsstaat? DDR oder BRD?“ eingeladen hatten, diesmal moderiert vom Vorsitzenden der GRH, Rechtsanwalt und Freidenker Hans Bauer. Dass es sich bei dem Begriffspaar Rechtsstaat/Unrechtsstaat nur um ein politisches Kampfmittel handelt und keinesfalls um eine wissenschaftlich geklärte Definition, stellt Buchholz gleich zu Beginn klar und kann sich dabei sogar auf den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages berufen.
Auch im Weiteren würzt der rhetorisch brillante Rechtswissenschaftler seinen Vortrag immer wieder mit Fakten und Zitaten der „Gegenseite“. So stellt er der für die BRD stets behaupteten Gewaltenteilung als Kriterium wahrer Demokratie Beispiele von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts entgegen, die wohl mehr der politischen Opportunität als der Rechtslage entsprechen. Aber was kann, so fragt er, eine Verfassung taugen, die wie das Grundgesetz der BRD von einem nicht gewählten, von den Westalliierten ernannten Herrenclub ohne Öffentlichkeit entworfen wurde und dann ohne Änderungen von den Ländergremien innerhalb einer Woche „abzusegnen“ war? Und, so mokiert er sich weiter, deren Inkrafttreten im „Bundesgesetzblatt“ eines noch gar nicht bestehenden Bundes „veröffentlicht“ wurde. Hingegen sei die später beschlossene DDR-Verfassung auf der Grundlage eines für Gesamtdeutschland gedachten und auch in den Westzonen breit diskutierten Entwurfs entstanden.
Dass eine gesamtdeutsche Lösung von den Westalliierten nie wirklich gewollt war, dafür kann Buchholz mit einem persönlichen Erlebnis einen schlagenden Beweis führen: „Ich war damals, das war im Sommer 1948, Dienstanwärter im Bezirksamt Tiergarten, und dort wurden wir eingesetzt zu dieser separaten Währungsreform, die in Westdeutschland und Westberlin durchgeführt wurde. Ich hatte die Ausgabe des neuen Geldes zu erledigen, und dann bringen die Mitarbeiter das Geld, Berge von Bündeln. Neugierig gucke ich mal nach. Die sehen ja so ulkig aus, wie Dollars. Dann blättere ich mal die Banderolen an. Was steht denn da drauf? 17. Nov. 1947! Da hat natürlich mein Gehirn gearbeitet, und da war klar: Diese Schweinerei ist schon lange vorbereitet worden! Das muss schon Anfang 1947 vorbereitet worden sein!“
Sein Resümee: ein „kapitaler Rechtsbruch gegen das Potsdamer Ankommen“, der zum Geburtsfehler der BRD wurde und seine traurige Entsprechung fand 1989/90 mit dem Ende der DDR, der kurzerhand das westdeutsche „Rechts“-System übergestülpt wurde. Dabei hatte das BRD-Grundgesetz gerade für diesen – wohl zunächst für theoretisch gehaltenen – Fall einer deutschen Wiedervereinigung in Artikel 146 einen gesamtdeutschen Volksentscheid über eine gemeinsame Verfassung vorgesehen, die das Grundgesetz ablösen sollte. Aber, so Buchholz, „das passte nicht ins Konzept von Helmut Kohl, und darum fliegt ein Grundgesetz-Artikel einfach weg.“
Solch gravierende Unterschiede im Rechtsverständnis der beiden deutschen Staaten werden, wie Buchholz mit Zahlen und Fakten belegt, nicht nur in der „großen“ Politik wirksam, sondern auch in der alltäglichen Rechtspraxis. So sei die Zahl der Gerichtsverfahren – und somit auch die der Rechtsanwälte – in der BRD um Zehnerpotenzen höher als in der DDR, wo viele „Fälle“ schon auf der Ebene der Konfliktkommissionen gelöst wurden. Die Erklärung für diesen eklatanten Unterschied liefert der Referent gleich mit: Die Sprache der DDR-Justiz sei bewusst einfach und allgemein verständlich gewesen, und weil sie nicht wie in der BRD einem ganzen Heer von Rechtsexperten satte Einkommen sichern musste, wurden auch die Gerichtsverfahren sehr viel schneller abgewickelt. In der BRD dagegen hätten oft Kläger erst nach vielen Jahren und großen Prozesskosten ihr Recht so spät bekommen, dass sie keinen Nutzen mehr daraus ziehen konnten. Auch dies eine Antwort auf die eingangs erwähnte Rechtsstaats-Definition.
So erlebten die rund vierzig Besucher eine hoch spannende „Berliner Runde“, voll gepackt mit sachkundigen Informationen und dargeboten in einer sprachlichen Klarheit, wie sie unter den Jüngern Justitias nicht sehr verbreitet ist. Aber Professor Buchholz ist, so formulierte eine Besucherin ihren Eindruck, „eben auch darin ein guter Repräsentant eines Staates, dem die Bürgernähe seiner Juristen mehr galt als fein gedrechselte juristische Spitzfindigkeiten, hinter denen die Klassenunterschiede verschwinden sollen.“
Hans-Günther Dicks
(Ein vollständiger Mitschnitt des Vortrags von Prof. Erich Buchholz findet sich unter http://ww.gutes-lesen.de als Podcast auf der Webseite des Verlags Wiljo Heinen, in dem auch einige seiner Bücher erschienen sind.)
Ein ausführliches Interview, das Ursula Goldenhaus-Lutz und Hans-Günther Dicks mit Prof. Erich Buchholz über seinen persönlichen und politischen Werdegang führten, kann hier als Audiobeitrag (mp3-Datei, ca. 25 MB) angehört werden.
« Protest gegen die Stationierung von PATRIOT-Raketen in der Türkei – Termine im Mai 2013 »
No comments yet.
Sorry, the comment form is closed at this time.