Diese Wendung spielt eine zwiespältige, merkwürdig-unklare Rolle.
Ken Jebsen, einer der gegenwärtig wenigen linken Aufklärer von Format, geht mit ihr hausieren. Gerne auch konterkariert er sein linkes Aufklärertum durch demonstrative Danksagungen an die Polizei oder durch gelegentliche Nettigkeiten für Frau Merkel.
Die selbsterklärten Gralshüter „echten Linksseins“ – DKP, KPD, Rotfuchs. Kommunistische Plattform oder wer auch immer – sind natürlich sauer, dass der Ken, dem sie unendlich viel verdanken, einen ihrer wichtigsten Glaubenswerte veralbert oder gar leugnet.
Denjenigen, die sich als einzige demonstrativ DIE LINKE nennen, geht der ganze Streit am Allerwertesten vorbei, denn was „links“ wirklich bedeuten könnte, interessiert Gysi und Zöglinge schon lange nicht mehr (wenn es sie jemals interessiert hat).
Bei meiner dauerhaften Sympathie für die Arbeit von Ken Jebsen blieb es nicht aus, dass ich in meinem Blog zu bestimmen versuchte (sogar mehrmals), ob und was „Linkssein“ für mich ist.
Anfangs (etwa ab 2012) mögen diese Überlegungen etwas akademisch gewesen sein. Inzwischen ist Zeit vergangen. Wir erleben (ohne allzu viel zu verstehen), wie die Multipolare Welt geboren wird. Dabei könnte es zu einer fundamentalen Tatsache werden, dass diese Welt „weder links noch rechts“ ist. Sie betritt Dank des Agierens von Kräften die Bühne, die anscheinend „weder links noch rechts“ sind.
Ich als skeptischer Optimist bin natürlich erst einmal froh, dass diese Multipolare Welt offenbar die Neue WeltOrdnung derer zurückdrängt, die sich selbst „Exzeptionelle“ nennen. Aber was folgt danach? Entwickelt sich ein neuer Kampf der multiplen Pole um „den Platz an der Sonne“? Oder entwickelt sich die Multipolarität zu einer sozusagen „ALLPOLARITÄT“, die auf nichts anderes hinauslaufen kann als eine „Macht ohne Herrschaft“? Wenn es soweit kommen soll, müsste wohl eine enorme revolutionäre Tatkraft aufgebracht werden, Linkssein im besten Sinne.
Das wäre die Stufe, wo „weder rechts noch links“ einerseits und „radikal links“ andererseits identisch werden. Denkmöglich scheint mir das zu sein.
Was die Zukunft ermöglicht und verlangt, wissen wir nicht.
Die Vergangenheit zu vergessen, haben wir kein Recht.
Den folgenden Text, der in „Lenin, Werke Band 36, Seite 501f“ nachgelesen werden kann, veröffentlichte Lenin am 20. Dezember 1918 in der „Prawda“.
„Ich lernte Gen. Proschjan während unserer gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahres (1917/1918 – KPKurch) kennen und schätzen, als die linken Sozialrevolutionäre mit uns verbündet waren. An Proschjan fiel sofort auf, daß er der Revolution und dem Sozialismus zutiefst ergeben war. Nicht von allen linken Sozialrevolutionären konnte man sagen, daß sie Sozialisten sind, überhaupt konnte man das wohl kaum von den meisten unter ihnen behaupten. Von Proschjan jedoch mußte man das sagen, denn ungeachtet seiner Treue zur Ideologie der russischen Volkstümler, einer nichtsozialistischen Ideologie, war in Proschjan der tief überzeugte Sozialist zu erkennen. Auf seine Art, nicht durch den Marxismus, nicht von der Idee des proletarischen Klassenkampfes aus ist dieser Mensch Sozialist geworden, und im Rat der Volkskommissare konnte ich bei der gemeinsamen Arbeit wiederholt beobachten, wie Gen. Proschjan sich entschlossen auf die Seite der Bolschewiki, der Kommunisten stellte, und nicht auf die seiner Kollegen, der linken Sozialrevolutionäre, wenn diese den Standpunkt der Kleineigentümer vertraten und sich zu den kommunistischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Landwirtschaft ablehnend verhielten.
Mir ist besonders ein Gespräch mit Gen. Proschjan im Gedächtnis geblieben, das kurz vor dem Brester Frieden stattfand. Damals schien es, als bestünden schon keine irgendwie wesentlichen Meinungsverschiedenheiten mehr zwischen uns. Proschjan begann mir gegenüber davon zu sprechen, daß eine Verschmelzung unserer Parteien notwendig sei, daß die dem Kommunismus (damals war dieses Wort noch nicht im Schwange) am fernsten stehenden linken Sozialrevolutionäre sich ihm während der gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare merklich und sehr stark genähert hätten. Ich verhielt mich zum Vorschlag Proschjans zurückhaltend und bezeichnete ihn als verfrüht, leugnete jedoch keineswegs ab, daß in der praktischen Arbeit eine Annäherung zwischen uns erfolgt sei.
Ein völliges Auseinandergehen brachte der Brester Frieden, und bei der revolutionären Konsequenz und Uberzeugungstreue Proschjans mußte aus diesem Auseinandergehen unbedingt ein direkter, ja bewaffneter Kampf entstehen. Daß es bis zum Aufstand oder bis zu solchen Tatsachen wie dem Verrat des Armeeoberbefehlshabers Murawjow, eines linken Sozialrevolutionärs, kommen könnte, das hatte ich, offen gestanden, nicht erwartet. Doch hat mir das Beispiel Proschjans gezeigt, wie tief sich in den Köpfen selbst der aufrichtigsten und überzeugtesten Sozialisten aus den Kreisen der linken Sozialrevolutionäre der Patriotismus eingenistet hatte – wie die Meinungsverschiedenheiten in den allgemeinen Prinzipien der Weltanschauung an einem schwierigen Wendepunkt in der Geschichte unvermeidlich zutage treten mußten. Der Subjektivismus der Volkstümler führte zu einem verhängnisvollen Fehler selbst der besten unter ihnen, die sich von dem Phantom einer ungeheuerlichen Macht, nämlich der des deutschen Imperialismus, blenden ließen. Ein anderer Kampf gegen diesen Imperialismus als durch Aufstände, und noch dazu unbedingt augenblicklich, ohne die objektiven Verhältnisse unserer und der internationalen Lage irgendwie zu berücksichtigen, erschien vom Standpunkt der Pflicht eines Revolutionärs als direkt unzulässig. Hier zeigte sich derselbe Fehler, der die Sozialrevolutionäre im Jahre 1907 zu unbedingten „Boykottisten“ der Stolypinschen Duma machte. Nur hat sich unter den Bedingungen heißer revolutionärer Schlachten der Fehler grausamer gerächt und Proschjan auf den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht getrieben.
Und dennoch hat Proschjan bis zum Juli 1918 mehr für die Festigung der Sowjetmacht getan als nach dem Juli 1918 für deren Untergrabung. Und in der internationalen Situation, die nach der deutschen Revolution entstanden ist, wäre eine neue – dauerhaftere als die frühere -Annäherung Proschjans an den Kommunismus unausbleiblich erfolgt, wenn ein vorzeitiger Tod diese Annäherung nicht verhindert hätte.
N. Lenin“
* * *
Wer den kurzen Zeitungsartikel nur oberflächlich betrachtet, meint vielleicht: „Nichts Besonderes, kleine Gedenknotiz für einen verstorbenen Genossen“. Doch damit würde etwas Wichtiges übersehen, nämlich, dass Lenin eines Menschen gedenkt, der „den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht“ eingeschlagen hatte. Ist es nicht erstaunlich, dass Lenin trotzdem nicht von Feind spricht?
Revolutionäre mit einer anderen Position „Feinde“ zu nennen, sie als „Agenten des deutschen, britischen und amerikanischen Geheimdienstes“ zu diffamieren oder sie als „Trotzkisten“ – das Allerschlimmste! – in Acht und Bann zu tun, das hat erst Stalin zur Methode gemacht, und manche seiner Adepten folgen ihm bis heute.
„Aber Stalin stand unter dem Druck des schärfsten Klassenkampfes, der schärfsten Angriffe der Konterrevolution“, wird als „Begründung“ vorgebracht. Ein Blick auf das Datum von Lenins Nachruf – 20. Dezember 1918 – verrät, dass dieser im Augenblick des Existenzkampfes der Sowjetmacht geschrieben wurde. In den Werken Band 28 ist auf den Seiten 539 und 540 aufgeführt, womit Lenin sich im Dezember 18/Januar 19 beschäftigte; kann hier mühelos nachgeprüft werden. Nein, es war nicht die politische Schönwetterlage, die dem Führer der Revolution eine „menschliche Regung“ erlaubte.
Ohnehin ist es nicht so sehr „Warmherzigkeit“, die hier zum Ausdruck kommt. Vielmehr ist es eine grundsätzliche Achtung vor jedem Menschen und ein tiefes konkretes Verständnis für jeden Menschen auf der Basis tief begründeten und zugleich differenzierten theoretischen Wissens und feinfühliger Wahrnehmung des Anderen (in seiner inneren Widersprüchlichkeit und persönlichen Dynamik).
Welche theoretische Souveränität steckt allein in der Bemerkung, Proschjan sei als Vertreter einer „nichtsozialistischen Ideologie“ dem Sozialismus „zutiefst ergeben“ gewesen. Ich sagte „theoretische Souveränität“ – ihr Kern ist die gleichsam zu Lenins „Natur“ gewordene Fähigkeit der materialistischen Dialektik. Das sei hervorgehoben, weil es erlernbar ist.
Der Deutsche Freidenkerverband veranstaltet im September 2017 in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz aus Anlass des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution. Erfreulich wäre es und wir sollten dafür sorgen, dass diese Konferenz eine Übung des Nachdenkens mit Lenin wird.
In der „jungen Welt“ ist ein Artikel zur Geschichte der Sowjetunion von Reinhard Lauterbach erschienen.
Der Deutsche Freidenkerverband veranstaltet im September 2017 in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz aus Anlass des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution.
Das Rumi-Projekt. Die Zeitschrift „Oya“. Dieter Halbach.