Prof. Dr. Gregor Schirmer ist Autor des Buchs: „Deutsche Grenzen und Territorien von 1815 bis 1990. Eine völkerrechtliche Inventur“. Der international bekannte Völkerrechtler setzt sich in seiner 175 Jahre umspannenden Inventur mit der Haltung des deutschern Imperialismus und seiner Vorformen zum Völkerrecht auseinander.
Ein völkerrechtlich markantes Ereignis der BRD-Rechtsgeschichte mit Bezug zur DDR ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1973. Am 31. Juli 1973 urteilte das Karlsruher Gericht zum Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR: „Das Grundgesetz […] geht davon aus, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist. … Das Deutsche Reich existiert fort. […] Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert.“
Dieser aggressive Standpunkt des deutschen Imperialismus fand seine „Belohnung“ und praktisch-politische Akzeptanz mit dem Anschluss der DDR nach Artikel 23 GG. Eine „Wiedervereinigung“ gab es nicht.
Schirmer arbeitet heraus, dass diese Rechtsauffassung zwingend die Nichtanerkennung der Beschlüsse des Potsdamer Abkommens zur endgültigen Beendigung des Deutschen Reiches einschließt. Bestritten wird damit die „Vernichtung des Aggressors als Staat und Völkerrechtssubjekt“.
Bei alldem geht es nicht um juristische Spitzfindigkeiten einer grauen Vorzeit. Schirmer im Interview: „Was Deutschland betrifft, habe ich in meinem Buch gezeigt, dass wir wachsam sein müssen. Es gibt immer noch den Standpunkt bei ernsthaften Völkerrechtlern, dass die Grenzfrage im Osten im Grunde genommen ein aggressiver Akt der Sowjetunion und Polens war, der von Deutschland nur um des lieben Friedens willen akzeptiert wird. Wir werden es nicht gewaltsam ändern, ist der Standpunkt.“*
Und weiter zum Zwei-plus-Vier-Vertrag und dem polnisch-deutsche Grenzvertrag: „Sie sprechen zwar davon, dass diese Grenzen endgültig seien, aber die Rechtsgrundlage dieser Endgültigkeit, die bleibt offen. Die Rechtsgrundlage ist die Aggressionshandlung des Deutschen Reiches gegen die Sowjetunion und gegen Polen und gegen andere Staaten. Das akzeptiert die offizielle Bundesrepublik keineswegs.“
Wir erleben derzeit eine neue Stufe des Strebens des deutschen Imperialismus nach einer Weltmachtrolle. Juristische Grundlagen dafür wurden frühzeitig geschaffen und immer gepflegt. Gregor Schirmers aufklärendes Buch kommt zur rechten Zeit.
* Hier ein Beispiel dafür, wie die Diskussionen beginnen, „erlittenes Unrecht gewaltfrei zu ändern“.
Leserbrief zu: „Venezuela verliert die Wahl“ und „Caracas driftet in die Unregierbarkeit“ von Martin Ling, „neues deutschland“ vom 1.8.2017
„Nimmt man (1.) nur mal einen Moment an, das von der Opposition in Venezuela als „entscheidender Sieg“ gefeierte Abstimmungsergebnis vom 16. Juli sei – ungeachtet der heimlich-schnellen Beseitigung aller Unterlagen – korrekt gewesen und 36 Prozent der Bevölkerung hätten die Idee einer Verfassunggebenden Versammlung (VV) als Lösungsweg zurückgewiesen, und geht man (2.) davon aus, dass die knapp 42 Prozent Beteiligung bei der Wahl zu dieser „constituyente“ – diese Ergebnisse bleiben erhalten und sind jederzeit überprüfbar – in Ordnung geht, bei der ja ein Boykott der MUD-Parteien galt, und schließt man (3.) ferner aus, dass einige oder gar viele erst gegen die „constituyente“ gestimmt haben und dann 14 Tage später doch zu ihrer Wahl gingen, dann hätten sich 22 Prozent der Bevölkerung „herausgehalten“, deutlich weniger als bei den Parlamentswahlen 2015 (25 Prozent Nichtteilnahme). 78 Prozent haben sich also positioniert.
Damals jedoch stimmten 50 Prozent aller Wahlberechtigten gegen die Chavisten und 25 Prozent für sie – jetzt also 36:42 !
Erstens also eine eindeutige Mehrheit für die Linke – etwa im Verhältnis 7:6, was ihr Weiterregieren völlig legitimiert,
zweitens ein Zugewinn von einem Sechstel (rund 17 Prozent) aller Wahlberechtigten gegenüber 2015,
drittens – angesichts der üblichen Wahlbeteiligungen in den USA, der jüngsten in Frankreich oder auch der in Sachsen-Anhalt – ein nicht nur die Maduro-Regierung, sondern erst recht die VV absolut ausreichend legitimierendes Ergebnis.
Und was macht eine „sozialistische Tageszeitung“ aus diesem Ergebnis? „Venezuela verliert die Wahl“ und „Caracas wird unregierbar“. Da staunt man nur und kann es gar nicht fassen. Das ist nun absolut der „Mainstream“ der Konzernpresse.
V. W., Berlin“
Den folgenden Text, der in „Lenin, Werke Band 36, Seite 501f“ nachgelesen werden kann, veröffentlichte Lenin am 20. Dezember 1918 in der „Prawda“.
„Ich lernte Gen. Proschjan während unserer gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahres (1917/1918 – KPKurch) kennen und schätzen, als die linken Sozialrevolutionäre mit uns verbündet waren. An Proschjan fiel sofort auf, daß er der Revolution und dem Sozialismus zutiefst ergeben war. Nicht von allen linken Sozialrevolutionären konnte man sagen, daß sie Sozialisten sind, überhaupt konnte man das wohl kaum von den meisten unter ihnen behaupten. Von Proschjan jedoch mußte man das sagen, denn ungeachtet seiner Treue zur Ideologie der russischen Volkstümler, einer nichtsozialistischen Ideologie, war in Proschjan der tief überzeugte Sozialist zu erkennen. Auf seine Art, nicht durch den Marxismus, nicht von der Idee des proletarischen Klassenkampfes aus ist dieser Mensch Sozialist geworden, und im Rat der Volkskommissare konnte ich bei der gemeinsamen Arbeit wiederholt beobachten, wie Gen. Proschjan sich entschlossen auf die Seite der Bolschewiki, der Kommunisten stellte, und nicht auf die seiner Kollegen, der linken Sozialrevolutionäre, wenn diese den Standpunkt der Kleineigentümer vertraten und sich zu den kommunistischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Landwirtschaft ablehnend verhielten.
Mir ist besonders ein Gespräch mit Gen. Proschjan im Gedächtnis geblieben, das kurz vor dem Brester Frieden stattfand. Damals schien es, als bestünden schon keine irgendwie wesentlichen Meinungsverschiedenheiten mehr zwischen uns. Proschjan begann mir gegenüber davon zu sprechen, daß eine Verschmelzung unserer Parteien notwendig sei, daß die dem Kommunismus (damals war dieses Wort noch nicht im Schwange) am fernsten stehenden linken Sozialrevolutionäre sich ihm während der gemeinsamen Arbeit im Rat der Volkskommissare merklich und sehr stark genähert hätten. Ich verhielt mich zum Vorschlag Proschjans zurückhaltend und bezeichnete ihn als verfrüht, leugnete jedoch keineswegs ab, daß in der praktischen Arbeit eine Annäherung zwischen uns erfolgt sei.
Ein völliges Auseinandergehen brachte der Brester Frieden, und bei der revolutionären Konsequenz und Uberzeugungstreue Proschjans mußte aus diesem Auseinandergehen unbedingt ein direkter, ja bewaffneter Kampf entstehen. Daß es bis zum Aufstand oder bis zu solchen Tatsachen wie dem Verrat des Armeeoberbefehlshabers Murawjow, eines linken Sozialrevolutionärs, kommen könnte, das hatte ich, offen gestanden, nicht erwartet. Doch hat mir das Beispiel Proschjans gezeigt, wie tief sich in den Köpfen selbst der aufrichtigsten und überzeugtesten Sozialisten aus den Kreisen der linken Sozialrevolutionäre der Patriotismus eingenistet hatte – wie die Meinungsverschiedenheiten in den allgemeinen Prinzipien der Weltanschauung an einem schwierigen Wendepunkt in der Geschichte unvermeidlich zutage treten mußten. Der Subjektivismus der Volkstümler führte zu einem verhängnisvollen Fehler selbst der besten unter ihnen, die sich von dem Phantom einer ungeheuerlichen Macht, nämlich der des deutschen Imperialismus, blenden ließen. Ein anderer Kampf gegen diesen Imperialismus als durch Aufstände, und noch dazu unbedingt augenblicklich, ohne die objektiven Verhältnisse unserer und der internationalen Lage irgendwie zu berücksichtigen, erschien vom Standpunkt der Pflicht eines Revolutionärs als direkt unzulässig. Hier zeigte sich derselbe Fehler, der die Sozialrevolutionäre im Jahre 1907 zu unbedingten „Boykottisten“ der Stolypinschen Duma machte. Nur hat sich unter den Bedingungen heißer revolutionärer Schlachten der Fehler grausamer gerächt und Proschjan auf den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht getrieben.
Und dennoch hat Proschjan bis zum Juli 1918 mehr für die Festigung der Sowjetmacht getan als nach dem Juli 1918 für deren Untergrabung. Und in der internationalen Situation, die nach der deutschen Revolution entstanden ist, wäre eine neue – dauerhaftere als die frühere -Annäherung Proschjans an den Kommunismus unausbleiblich erfolgt, wenn ein vorzeitiger Tod diese Annäherung nicht verhindert hätte.
N. Lenin“
* * *
Wer den kurzen Zeitungsartikel nur oberflächlich betrachtet, meint vielleicht: „Nichts Besonderes, kleine Gedenknotiz für einen verstorbenen Genossen“. Doch damit würde etwas Wichtiges übersehen, nämlich, dass Lenin eines Menschen gedenkt, der „den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht“ eingeschlagen hatte. Ist es nicht erstaunlich, dass Lenin trotzdem nicht von Feind spricht?
Revolutionäre mit einer anderen Position „Feinde“ zu nennen, sie als „Agenten des deutschen, britischen und amerikanischen Geheimdienstes“ zu diffamieren oder sie als „Trotzkisten“ – das Allerschlimmste! – in Acht und Bann zu tun, das hat erst Stalin zur Methode gemacht, und manche seiner Adepten folgen ihm bis heute.
„Aber Stalin stand unter dem Druck des schärfsten Klassenkampfes, der schärfsten Angriffe der Konterrevolution“, wird als „Begründung“ vorgebracht. Ein Blick auf das Datum von Lenins Nachruf – 20. Dezember 1918 – verrät, dass dieser im Augenblick des Existenzkampfes der Sowjetmacht geschrieben wurde. In den Werken Band 28 ist auf den Seiten 539 und 540 aufgeführt, womit Lenin sich im Dezember 18/Januar 19 beschäftigte; kann hier mühelos nachgeprüft werden. Nein, es war nicht die politische Schönwetterlage, die dem Führer der Revolution eine „menschliche Regung“ erlaubte.
Ohnehin ist es nicht so sehr „Warmherzigkeit“, die hier zum Ausdruck kommt. Vielmehr ist es eine grundsätzliche Achtung vor jedem Menschen und ein tiefes konkretes Verständnis für jeden Menschen auf der Basis tief begründeten und zugleich differenzierten theoretischen Wissens und feinfühliger Wahrnehmung des Anderen (in seiner inneren Widersprüchlichkeit und persönlichen Dynamik).
Welche theoretische Souveränität steckt allein in der Bemerkung, Proschjan sei als Vertreter einer „nichtsozialistischen Ideologie“ dem Sozialismus „zutiefst ergeben“ gewesen. Ich sagte „theoretische Souveränität“ – ihr Kern ist die gleichsam zu Lenins „Natur“ gewordene Fähigkeit der materialistischen Dialektik. Das sei hervorgehoben, weil es erlernbar ist.
Der Deutsche Freidenkerverband veranstaltet im September 2017 in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz aus Anlass des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution. Erfreulich wäre es und wir sollten dafür sorgen, dass diese Konferenz eine Übung des Nachdenkens mit Lenin wird.
Lesung und Debatte über Lösungsstrategien für das taumelnde Europa und die von Krisen geschüttelte Welt.
Vortrag und Diskussion mit dem Historiker Reinhard Paulsen. Es geht um eine
(Näheres dazu hier.)
Wann? Donnerstag, den 3. August 2017, Beginn 19.30 Uhr
Wo? COOP Anti-War Café Berlin, Rochstr. 3, 10178 Berlin
Eintritt frei/Hutspende
Weitere Informationen hier.